Entscheidungen in der Pandemie Soll ich’s wirklich machen oder lass ich’s lieber sein?

Meinung | Düsseldorf · Die zweite Welle der Corona-Pandemie zwingt die Bürger zu schwierigen Entscheidungen. Weil die Politik Spielräume lässt, müssen sie selbst wissen, ob sie ins Restaurant gehen oder die Eltern treffen. Für manche Beziehung ist das eine Belastung.

Auf die Hochzeit von Freunden gehen, oder lieber zuhause bleiben? (Symbolbild).

Auf die Hochzeit von Freunden gehen, oder lieber zuhause bleiben? (Symbolbild).

Foto: dpa/Uwe Anspach

Zwei Freunde wollen heiraten. Es ist eine kurze Nachricht, die meine Freundin mir vom Sofa aus zuwirft. Gut, denke ich, das wurde ja auch Zeit. Ich sehe die beiden vor mir, voller Liebe, Herzlichkeit und Glück, und freue mich auf den Tag mit Sekt, Kuchen und Sorglosigkeit. Hochzeiten gefallen mir. Sie bringen eine Verbindlichkeit in eine unverbindliche Welt. Wahrscheinlich heiraten deshalb so viele.

Die Vorfreude auf den Tag währt nur wenige warme Augenblicke. Dann fühle ich mich, als hätte ich Sekt und Kuchen schon in zu großen Mengen eingeworfen. Der Magen brummt und erinnert: Das geht doch nicht. Ach, die Pandemie.

Aber ich sage erstmal nichts. Ein Spaßverderber mag ich nicht sein. Wie kann ich einer solch freudigen Nachricht mit Bedenken begegnen? Sagen, dass ich mir nicht vorstellen mag, wie das Hygienekonzept aussieht? Vermitteln, dass ich mich unwohl fühle, in unmittelbarer, maskenfreier, alkoholenthemmter Gegenwart von einigen anderen Menschen?

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Die Frage der Stunde stammt aus einem Song von Fettes Brot, veröffentlicht im Jahre 1996. Die drei Deutschrapper König Boris, Dokter Renz und Björn Beton aus Pinneberg fragen darin: „Soll ich’s wirklich machen – oder lass ich’s lieber sein?“ Ihre Antwort, die heute leider überhaupt nicht weiterhilft: „Jein.“

Eine zweite Welle kenne ich eigentlich nur vom Handball. Nach einem Angriff des Gegners sprinten zuerst die Außen und der Kreis nach vorne. Die Rückraumspieler folgen danach, in der zweiten Welle. Schnell soll sie kommen und den Gegner mit Wucht überraschen. Als ich noch gespielt habe, hat das oft funktioniert.

Der Mechanismus dieser Pandemie ist offenbar ein ähnlicher. Während sich beim Handball die Abwehr noch sortiert, droht von hinten bereits Ungemach. Man weiß, dass die Rückraumspieler kommen, macht aber noch nichts. Dass das Infektionsgeschehen wieder steigen würde, wenn der Herbst kommt, war klar. Aber während die Bürger noch geheiratet haben und in Restaurants das Leben pulsieren ließen, drohte von hinten schon wieder Ungemach.

Nun ist es da. Wenn ich morgens nach dem Aufstehen auf das Handy schaue, dann vermeldet es wieder Rekorde bei den Infektionszahlen, als lebe ein alter Wettbewerb wieder auf. Damals, im März, habe ich alle Eilmeldungen ausgeschaltet, weil mir die Zahlen Angst gemacht haben. Heute kann ich sie besser einordnen, weil ich glaube, dass das Land eigentlich wissen müsste, was zu tun ist.

Aber wer ist das Land? Die Regierungen? Die Bürger? Wir alle?

Der Chef des Bundeskanzleramts hat darauf eine Antwort. Es ist eine verblüffende Antwort, wenn man an die Zeiten des Frühjahrs denkt, in denen einem mancherorts das Lesen eines Buches auf einer Bank verboten worden ist. Der CDU-Politiker Helge Braun sagte: „Und deshalb kommt’s jetzt auf die Bevölkerung an.“ Und: „Wir müssen im Grunde genommen alle mehr machen und vorsichtiger sein als das, was die Ministerpräsidenten beschlossen haben.“

Auf die Regierungen sollen sich die Bürger also nicht verlassen. Die Politik lässt ihnen Spielräume. Sie werden zwar kleiner, sind aber noch deutlich größer als im Frühjahr. Und deswegen müssen sie nun selbst entscheiden, was sie tun, und was sie lassen. Soll ich’s wirklich machen – oder lass ich’s lieber sein?

Darf man ja. Das ist so ein Ausruf, den ich oft gehört habe in den vergangenen Monaten. 50 Freunde darf man ja einladen, zum Geburtstag. 150 Gäste darf man ja haben, bei der Hochzeit. Nach Kroatien darf man ja fahren. Ja, es ist alles erlaubt, was nicht verboten ist. Aber heißt das, dass man auch alles machen muss, was man ja darf?

In dieser zweiten Welle der Pandemie stehen die Bürger vor sehr komplexen Entscheidungen. Trifft man die Nachbarn noch auf ein Glas Wein, auch wenn es auf der Terrasse mittlerweile zu kalt ist? Geht man noch zu dem Geburtstag der sehr guten Freundin, auch wenn sie nur neun Gäste eingeladen hat? Besucht man seine Eltern, Kinder, Großeltern noch, auch wenn jede Umarmung eine Gefahr ist? Keine Ahnung. Jein.

Ich wollte demnächst für eine Woche nach Borkum reisen. Ein bisschen am Nordseestrand spazieren, mich durchpusten lassen, endlich mal ein paar gute Bücher lesen, durchatmen. Nun sagt die Regierung, man solle auf „nicht erforderliche innerdeutsche Reisen“ verzichten. Eigentlich halte ich es aber für sehr erforderlich, nach den vergangenen kräftezehrenden Monaten innerdeutsch zu verreisen.

Was nicht erforderlich ist, müssen die Bürger also selbst entscheiden. Die Regeln, auf die sich Ministerpräsidenten und Bundesregierung verständigt haben, sind ungenau, sie lassen Raum für Ermessensentscheidungen. Der Bürger wird somit zur eigenen Exekutivgewalt. Aber wie er seinen Ermessensspielraum angemessen ausübt, muss er selbst herausfinden.

Freilich gibt es auf alles eine einfache Antwort. Damit kennen sich die Schlaumeier auf Twitter aus, die immer wissen, was gerade angemessen ist. Freilich könnte ich sagen: Ich lass es lieber sein. Ich gehe auf keine Hochzeit. Ich treffe keine Freunde. Ich umarme meine Eltern nicht. Aber ich weiß nicht, ob ich das durchhalte. Ehrlich nicht.

Die geltenden Regeln müssten Liberalen eigentlich gefallen. Der Bürger nicht als Lamm, das den Anweisungen der Herde folgt, sondern als Schäfer des eigenen Lebens. Der Mensch ist ein mündiges, intelligentes Wesen, selbstverständlich kann und soll er eigenverantwortliche Entscheidungen treffen. Die Frage ist bloß, ob es in einer Pandemie der richtige Zeitpunkt ist, sich auf die Mündigkeit der Menschheit zu verlassen.

Freunde, Nachbarn, Verwandte müssen sich in diesem Herbst und Winter viel verzeihen. Sie müssen verstehen, wenn man den Kaffeeklatsch absagt. Es ist schwer, die Einsamen nicht zu besuchen. Dass es in diesem Jahr schon einmal eine Zeit gab, in der das nicht ging, macht es noch schwerer. Die Abwägung von Depressionen der Einsamkeit und Infektionsschutz gehört zu den Zumutungen dieser Zeit. Leider.

Die Hochzeit der zwei Freunde wird vermutlich nun ohnehin nicht stattfinden, dazu genügt ein Blick in die neuesten Fassungen der Coronaschutzverordnung. Aber Restaurants, Freunde, Familie besuchen? Egal, wie die Antwort ausfällt: Man sollte sie offen und ehrlich mitteilen. Dafür müssen alle Verständnis haben, so als mündige Bürger.

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