Infektionsschutz für Kinder Durchseuchung – gefahrlos oder russisches Roulette?

Düsseldorf · Längst befinden wir uns in der vierten Welle der Corona-Pandemie. Fachleute streiten sich, ob und wie Kinder geschützt werden müssen.

 Geöffnete Schulen sind für Kinder ein Segen. Experten sehen allerdings, die unter Schülern die Infektionszahlen derzeit explodieren.

Geöffnete Schulen sind für Kinder ein Segen. Experten sehen allerdings, die unter Schülern die Infektionszahlen derzeit explodieren.

Foto: dpa-tmn/Matthias Balk

Durchseuchung ist eines der hässlichsten Worte aus dem Kernbereich von Epidemiologie und Infektionsmedizin. Mancher kennt das Phänomen von den Herpes-Viren. Der Simplex-Typ-1 ist sehr häufig in Deutschland verbreitet, die Zahlen schwanken zwischen 70 und 90 Prozent, weil es eine hohe Dunkelziffer von Menschen gibt, in denen das Virus schlummert, ohne dass sie je erkranken.

Wer von Durchseuchung spricht, meint eine Momentaufnahme – sie beschreibt die Häufigkeit eines Erregers in der Bevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Der Fachbegriff ist Infektionsprävalenz.

Nun glauben manche, man könne Durchseuchung in einen aktiven Vorgang umwandeln, um im Kampf gegen Sars-CoV-2 eine Herdenimmunität zu erreichen. Nach dem Motto: Wenn sich schon nicht alle impfen lassen, könnten sich ja möglichst viele – vor allem Kinder – infizieren; die Covid-19-Krankheit breche ja nur bei älteren Menschen mit Risikoprofil aus, und von ihnen seien schließlich viele geimpft. Und Infizierte (auch Kinder) seien nach der Genesung durch ihr Immunsystem geschützt.

Diese Querverrechnung stimmt zwar nicht, weil beispielsweise auf Intensiv-, aber auch auf Normalstationen immer häufiger Menschen mit komplexen Covid-19-Verläufen, aber ohne Vorerkrankungen liegen. Trotzdem scheint der Gedanke etwas Vernünftiges zu haben. Oder läuft er auf russisches Roulette hinaus?

Zwar ist das Risiko für schwere Verläufe oder den Tod durch Covid-19 bei Kindern sehr gering, trotzdem ist es vorhanden. „Es liegt bei ein bis drei Todesfällen pro 100.000 Menschen“, sagt Berit Lange vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Wenn das Virus nun flächendeckend durch die Schulen ginge, könne man mit Toten im dreistelligen Bereich rechnen. Von diesen Kindern hätten viele Vorerkrankungen.  

Jörg Dötsch von der Kölner Universitäts-Kinderklinik hält Teststrategien weiterhin für wichtig: „Ein gutes Mittel für Schulen und Kitas, um Infektionen in Schach zu halten, sind Lolli-Tests auf PCR-Basis.“ Sie hätten sich in NRW, sagte er dem „Ärzteblatt“, bereits in der Fläche bewährt und müssten nicht mehr weiter getestet werden.

Das Problem ist, dass es kaum Studien zu den Auswirkungen der Delta-Variante bei Kindern gibt. Robin Kobbe, Kinderinfektiologe am Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg, sagte in der ARD, es gebe „keinen Grund anzunehmen, dass die deutlich höhere Übertragbarkeit nicht auch in jüngeren Altersgruppen bedeutsam ist", so Kobbe. Daher sei bei steigenden Infektionszahlen bei Kindern davon auszugehen, dass „auch mehr Kinder so krank werden, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen".

Eine mögliche Durchseuchung hat noch eine weitere Tücke: Virologen bemerken gerade jetzt, im Spätsommer, ein ungewöhnliches Wiederkehren schwerer Atemwegserkrankungen. Deshalb dürfe man im Blick auf den Herbst nicht nur auf Covid-19 schauen, sondern auch auf Respiratorische Synzytial-Virus-Infektionen (RS-Viren).

Andererseits sagte Burkhard Rodeck von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, ebenfalls in der ARD: Zwar nähmen die Infektionen durch die ansteckendere Delta-Variante zu, aber die allermeisten dieser Infektionen verliefen leicht oder asymptomatisch. Zudem gebe es eine hohe Rate an Kindern, die bereits eine unbemerkte Covid-Infektion gehabt und damit eine gewisse Immunität erworben hätten. Außerdem könnte die Impfung der älteren Kinder die Zahl der schweren Fälle nochmals reduzieren.

Als Folge einer Corona-Infektion kann bei Kindern das Pims-Syndrom auftreten, eine schwere multisystemische Entzündungsreaktion des Körpers – selbst dann, wenn ein Kind gar keine Symptome hatte oder die Infektion abgeklungen ist. In mindestens der Hälfte der Fälle kommen die Kinder auf die Intensivstation; bleibende Schäden eingeschlossen. In Deutschland wurden bis Anfang September 416 Pims-Fälle gemeldet; es gilt als Seltenheit. Nach bisherigen Erkenntnissen erkranken international 0,1 Prozent (ein von 1000 infizierten Kindern).

Man sieht: Der Gedanke an eine Durchseuchung ist eine Gleichung mit mehreren Unbekannten. Von den möglichen Long- oder Post-Covid-Fällen bei Kindern ist dabei noch gar keine Rede.

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