Streit um Thesenblatt im Netz Sind die Zahlen zur Intensivkapazität wirklich manipuliert?

Düsseldorf · Die Zahl tatsächlich belegter Intensivbetten während der Pandemie soll manipuliert sein. Das jedenfalls behaupten zehn Autoren in einem Thesenpapier, das unter dem Hashtag #DiviGate für heftige Diskussionen im Netz sorgt. Was ist dran an den Behauptungen?

 Ein Patient wird intensivmedizinisch versorgt (Symbolbild).

Ein Patient wird intensivmedizinisch versorgt (Symbolbild).

Foto: dpa/Ole Spata

Die Situation auf den Intensivstationen hierzulande ist ein Dauerthema. Immer wieder warnten Mediziner vor Versorgungsengpässen. In den sozialen Medien hingegen wird häufig angezweifelt, dass es solche Engpässe überhaupt gibt. Ebenso wird in Zweifel gezogen, dass, so es doch eine Überlastung geben sollte, die hohe Zahl von Covid-19-Patienten dafür verantwortlich ist.

Nun sorgt eine Ad-Hoc-Stellungnahme, über die die Tageszeitung „Die Welt“ zuerst berichtete, im Netz für Aufmerksamkeit. Was auffällt: Die Thesen der Autoren werden besonders stark von Corona-Leugnern und Verschwörungstheoretikern weiterverbreitet. Verfasst hat die Stellungnahme eine zehnköpfige Autorengruppe – unter ihnen: Mediziner, Juristen, Versorgungsforscher und andere Gesundheitsexperten.

Worum geht es genau? Die Autorengruppe um Matthias Schrappe, einem ehemaligen Vorstandsmitglied des Sachverständigenrates Gesundheit, weist in ihrem Thesenpapier darauf hin, dass es in Deutschland eine zu hohe Zahl an Intensivbetten gebe. Im Vergleich zu anderen Ländern würden hierzulande so oft wie nirgendwo anders ambulant behandelbare Fälle im Krankenhaus versorgt. Ähnlich verhalte es sich auch bei der Behandlung von Corona-Kranken: „In keinem Land werden im Vergleich zur Melderate so viele Infizierte intensivmedizinisch behandelt“, heißt es in dem Thesenpapier.

Zu keinem Zeitpunkt sei es jedoch zu Engpässen an Intensivbetten gekommen, so die Behauptung der Autoren. Im Jahr 2020 seien wegen der Behandlung Covid-19-Erkrankter lediglich zwei Prozent der stationären und nur vier Prozent der intensivmedizinischen Kapazitäten genutzt worden. Dennoch seien vom Staat Ausgleichszahlungen an Krankenhäuser in Höhe von 10,2 Milliarden Euro und Prämienzahlungen für die Bereitstellung zusätzlicher Intensivbetten in Höhe von 530 Millionen Euro gezahlt worden.

Im Interview mit „Der Welt“ äußert Schrappe in diesem Zusammenhang den Verdacht, es handele sich um „Subventionsbetrug und zweifelhafte Verwendung von Fördermitteln“. Dazu seien, so Schrappe, offizielle Statistiken manipuliert worden.

Dabei beziehen sich die Autoren unter anderem auf das Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Das Register erfasst tagesaktuell freie wie belegte Behandlungskapazitäten in Deutschland und auch, wie viele davon von Covid-19-Patienten belegt sind.

Was den Autoren auffällt: In Bezug auf dieses Register habe das Robert-Koch-Institut am 30.7.2020 noch 33.367 Intensivbetten gemeldet. Jetzt hingegen seien es für dieses Datum nur noch 30.340. Diese Diskrepanz, so heißt es in der Stellungnahme, sei nicht mit einer veränderten Dokumentationsweise zu erklären.

Richtig ist: Aus dem Intensivregister sind annähernd 3000 Betten verschwunden. Falsch allerdings ist die Aussage, es gäbe dafür keine Erklärung. Die Zahlenabweichung lässt sich durchaus durch eine veränderte Dokumentationsweise erklären, auf die das DIVI sogar selber aufmerksam macht: Seit dem 4. März 2021 werden die Kinder-Intensivbetten nämlich in der Statistik nicht mehr mitgezählt, wie Malte Kreutzfeldt von der „taz“ twittert.

Das DIVI passte aus diesem Grund seine Übersicht rückwirkend an. In seinen Anmerkungen weist das Intensivregister ausdrücklich darauf hin, dass sich die Reduktion der Betten aus einer veränderten Zählweise ergebe. „Die Kapazitäten für Erwachsene stehen in der gegenwärtigen Sars-CoV-2-Pandemie im Fokus, da schwere Verläufe vordergründig bei Erwachsenen auftreten“, heißt es in der Begründung dafür. Die Summe der Kinderkapazitäten wird in den Grafiken seitdem gesondert ausgewiesen.

Ein weiterer Punkt aus dem kritisch beäugten Thesenpapier: Die Autoren unterstellen in Bezug auf die Zahl der Pflegekräfte das Fehlen objektiver Daten. "Eine Abnahme der aktiv tätigen Pflegekräfte lässt sich statistisch nicht nachweisen", heißt es in der abschließenden Bewertung des Papiers. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft teile jüngst in Bezug auf eine Sonderauswertung der Bundesagentur für Arbeit mit, dass die Zahl der Pflegekräfte in deutschen Kliniken gestiegen sei. Innerhalb eines Jahres sei deren Zahl von Oktober 2019 bis zum Oktober 2020 um 18.500 Pflegerinnen und Pfleger aufgestockt worden. Allerdings erfüllten nicht alle Pflegekräfte nach „Insiderinformationen“, wie es im Thesenpapier heißt, die erforderliche Qualifikation.

Tatsächlich stiegen die Beschäftigtenzahlen vor der Pandemie leicht an. Von März bis Juni 2020 aber sanken die Beschäftigungszahlen laut Bericht der Bundesagentur für Arbeit um 0,5 Prozent ab. Dieser Einbruch sei laut Arbeitsmarktexperten zwar saisonal bedingt. DIVI-Präsident Christian Karagiannidis erklärte in einem Podcast des NDR, dass jedoch auch die Zahl der Stationen gewachsen sei, die Personalmangel melden und verweist zudem darauf, dass wegen Pandemie der Aufbau zusätzlicher Intensivkapazitäten notwendig gewesen sei. „Jedes Krankenhaus in Deutschland würde Pflegekräfte einstellen, aber der Markt ist wirklich komplett leer“, so Karagiannidis wörtlich.

Die Autoren des Thesenpapiers kritisieren ferner, dass die Zahl der Corona-Patienten trotz hoher Melderate nur maximal ein Viertel aller Intensivbetten mit Covid-19-Patienten ausmache. Allein die Covid-19-Patienten für die Überlastung der Intensivstationen verantwortlich zu machen, erscheine vor diesem Hintergrund nur bedingt glaubwürdig. Es habe laut Schrappe in den Krankenhäusern die Tendenz gegeben, Covid-19-Patienten ohne Not auf die Intensivstation zu verlegen.

Unter dem Hashtag #divigate melden sich indessen zahlreiche Mediziner und Pflegekräfte zu Wort, die sich durch das Thesenpapier attackiert fühlen. So äußert sich unter anderem Intensivkrankenpfleger Ricardo Lange, der zuletzt auch auf einer Pressekonferenz mit Gesundheitsminister Jens Spahn zu Wort kam: Er müsse lesen, dass auf Intensivstationen offenbar Patienten lagen, die dort nicht hätten liegen müssen. „Bei uns lag niemand, der es nicht musste“, twittert er.

Die Aussagen der Autoren werden im Netz heftig diskutiert. Ein mehrfach genanntes Argument: Die zugrunde gelegten Zahlen im Thesenpapier seien falsch interpretiert oder grundsätzlich nicht richtig.

Wie ist die derzeitige Lage auf den Intensivstationen?

Laut DIVI-Intensivregister (Stand 17. Mai 2021) werden derzeit rund 4000 Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen behandelt. 62 Prozent von ihnen werden invasiv-medizinisch beatmet. Derzeit sind rund 20.000 Intensivbetten in Deutschland belegt. Die Kliniken melden noch freie Kapazitäten von 3400 Betten. Im Vergleich zum Vortag sind diese Zahlen leicht gestiegen.

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