Kassenärzte-Chef Frank Bergmann „Fast jede Praxis muss Staatshilfe in Anspruch nehmen“

Düsseldorf · Der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein spricht im Interview über Umsatzeinbrüche der Praxen, eine Maskenpflicht in Nordrhein-Westfalen und die Lage in Heinsberg.

Frank Bergmann fürchtet, dass die Zahl der Depressions-Kranken zunimmt.

Frank Bergmann fürchtet, dass die Zahl der Depressions-Kranken zunimmt.

Foto: Bretz, Andreas (abr)

Gesundheitsminister Spahn nennt die Pandemie beherrschbar, Läden öffnen wieder. Haben wir das Coronavirus überschätzt?

Bergmann Nein, auf keinen Fall. Covid-19 ist weiter eine gefährliche Krankheit. Sie trifft nicht nur Menschen über 80 Jahre. Auch 50-Jährige können lebensgefährlich erkranken. Das Virus bleibt tückisch – bei manchen verursacht es Unwohlsein, bei anderen schwere Atemnot.

Ist die aktuelle Lockerung der Beschränkungen zu verantworten?

Bergmann Es ist ein sinnvoller Versuch. Der Erfolg der Lockerungen hängt aber ganz entschieden davon ab, ob wir die nötigen Schutzmaßnahmen nun auch leben – Abstand halten, Hände waschen, Kontakte weiterhin minimieren. Wenn wir in alte Verhaltensmuster zurückfallen, wird das Infektionsgeschehen rasch zunehmen.

Bayern verhängt eine Schutzmaskenpflicht. Sollte NRW folgen?

Bergmann Aus medizinischer Sicht würde ich eine entsprechend klare Anordnung auch für NRW begrüßen. Voraussetzung wäre allerdings, dass der Bevölkerung ausreichend Masken zur Verfügung stehen – dies ist angesichts der gegenwärtigen Lieferengpässe nicht einmal in den Praxen der Fall.

Der Gemeinsame Bundesausschuss von Ärzten und Kassen (G-BA) hatte für seine Entscheidung, dass Kassenpatienten mit Atemwegserkrankungen wieder persönlich in der Praxis vorsprechen müssen, viel Kritik geerntet, auch von Ihnen. Jetzt soll die telefonische AU zumindest wieder für eine Woche möglich sein. Wie finden Sie das?

Bergmann Ein Aus für die telefonische AU wäre aus meiner Sicht unverantwortlich. Patienten könnten wieder die Wartezimmer füllen, damit würde das Infektionsrisiko für diese und andere Patienten wieder steigen. Ich bin froh, dass der G-BA seinen Beschluss nun offenbar dahingehend revidiert, weiterhin bis zu einer Woche nach telefonischer Anamnese eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigen zu können und diese bei fortdauernder Erkrankung auch einmal verlängern zu können.

Was steckte hinter der ursprünglichen Entscheidung?

Bergmann Darüber kann man nur spekulieren. Nach sechs Wochen Krankheit erhalten Patienten Krankengeld von den Krankenkassen. Womöglich hatten die Kassen die Sorge, dass eine Kostenwelle wegen erhöhten Krankengeldes auf sie zurollt. Im Sinne der Patienten und Ärzte bin ich froh, dass es nun voraussichtlich doch nicht so kommt.

Werden Praxen in Nordrhein von Covid-19-Patienten überrannt?

Bergmann Das Bild ist gemischt. Auf der einen Seite gibt es Praxen, die sehr hohen Zulauf haben. Auf der anderen Seite gibt es Praxen, denen der Umsatz regelrecht weggebrochen ist.

Welche Praxen sind das?

Bergmann Patienten verschieben Vorsorgeuntersuchungen beim Allgemeinmediziner oder Hautarzt, sie sagen Termine beim Psychotherapeuten ab, weil sie fürchten, sich anzustecken. In der Abrechnung zum zweiten Quartal dürften wir sehen, dass die Corona-Krise tiefe Spuren in der ambulanten Versorgung hinterlässt.

Was erwarten Sie von Krankenkassen und Politik, um den niedergelassenen Ärzten zu helfen?

Bergmann Der Bundesgesundheitsminister hat einen Schutzschirm für Praxen aufgespannt. Den Praxen sollen die Umsatzausfälle und die Ausgaben für Schutzmaterial erstattet werden. Ich erwarte nun von den regionalen Krankenkassen, dass sie diese Vereinbarungen auch umsetzen.

Wie viele Praxen in Nordrhein werden den Schutzschirm brauchen?

Bergmann Ich gehen davon aus, dass fast jede Praxis in Nordrhein unter den Schutzschirm muss und staatliche Hilfen in Anspruch nehmen wird. Viele haben mehr als zehn Prozent ihres Umsatzes eingebüßt.

Können niedergelassene Ärzte, die weniger zu tun haben, nicht auch im Krankenhaus helfen?

Bergmann Ja, das können sie, wenn sie wollen. Die Landesregierung ist unserer Bitte gefolgt und will – anders als Bayern – keine Zwangsverpflichtung von Ärzten und Pflegekräften. Wir führen gemeinsam mit der Ärztekammer Nordrhein ein Register, in das sich auch schon Ärzte eingetragen haben – etwa Lungenfachärzte, die bei der Hotline 11 6 11 7 telefonisch beraten.

Wie ist die Lage im besonders betroffenen Heinsberg?

Bergmann In Heinsberg hat sich die Infektionslage stabilisiert. Wir haben hier laut Ministerium 1650 bestätigte Fälle, aber mehr als 1000 Patienten sind genesen. Praxen und Kliniken in Heinsberg sind weiterhin belastet, können das Geschehen aber kontrollieren.

Wie viele Praxen in NRW sind denn geschlossen?

Bergmann Aktuell sind landesweit sechs Praxen niedergelassener Ärzte geschlossen, weil sich Arzt, Ärztin oder Helfer selbst mit Corona infiziert haben. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen, einige Ärzte haben sich ohne uns eine Diagnose zu nennen krankgemeldet.

Ärzte klagen über fehlende Schutzausrüstung. Wie ist der Stand?

Bergmann Seit Ende März erreichen uns Lieferungen aus der Zentralbeschaffung des Bundes und auch wir selbst organisieren über eigene Quellen Schutzmaterial. In den vergangenen vier Wochen haben wir so rund 10.000 Arztpraxen in Nordrhein unter anderem mit 2,2 Millionen Masken und Handschuhen sowie 11.000 Liter Desinfektionsmittel versorgen können. Das reicht für die nächsten Tage. Doch wir brauchen natürlich immer neues Material. Und natürlich müssen Kassen und Bund Wort halten und das Material bezahlen.

Gibt es Polizeischutz?

Bergmann Polizei und Ordnungsämter begleiten Lieferung und Verteilung. Zweimal haben wir bereits die Verteilpunkte Köln, Bonn und Aachen angefahren. Ende der Woche werden wir auch Ärzte in der Region Düsseldorf zum zweiten Mal ausstatten. Es gab einmal eine verbale Pöbelei, ansonsten läuft die Verteilung immer reibungslos.

Haben wir genug Testkapazitäten?

Bergmann Ja. In NRW können wir pro Woche 75.000 Tests auf das Coronavirus durchführen, aktuell werden 50.000 Tests vorgenommen. Auch Altenheime werden nun systematisch durchgetestet. Vorläufig werden die Tests in Gänze durch die GKV finanziert.

Wie sieht es mit den medizinischen Folgeschäden des Lockdown aus?

Bergmann Die können gewaltig sein. Die Zahl der Depressions-Kranken wird zunehmen, weil viele mit dem wochenlangen Alleinsein überfordert sind. Die Angst vor dem Virus kann Angsterkrankungen auslösen. Und Familien – besonders wenn sie beengt wohnen – können von der neuen Intensität des Familienlebens überfordert sein. Daher wird die KVNO in Kürze eine psychotherapeutische Hotline starten, die über die 116117 erreicht werden kann. Hier helfen Fachärzte und Psychotherapeuten weiter.

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