Weniger Neuinfektionen Rätselraten über Japans Erfolg im Umgang mit dem Coronavirus

Tokio · Warum ist die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Japan zuletzt so stark gesunken? Zur Debatte stehen eine späte, aber zügige Impfkampagne, verringerte Party-Aktivitäten - aber auch eine schwindende Anzahl an Tests.

 Masken gehören in der japanischen Hauptstadt Tokio nach wie vor zum Alltagsbild.

Masken gehören in der japanischen Hauptstadt Tokio nach wie vor zum Alltagsbild.

Foto: dpa/Koji Sasahara

Fast über Nacht ist Japan zur Erfolgsstory im Kampf gegen das Coronavirus geworden. Doch Fachleuten ist nicht ganz klar, woran genau das liegt. Die Zahl täglichen Neuinfektionen ist in Tokio von einem Höchststand Mitte August mit 6000 Fällen auf nun unter 100 gesunken. So wenige waren es seit elf Monaten nicht. Die Bars sind voll, die Züge auch, und es herrscht Feierstimmung.

Anders als in Europa und anderen Teilen Asiens hat es in Japan nie so etwas wie einen Lockdown gegeben, sondern nur eine Reihe von relativ laxen Vorgaben. Viele führen es auf die Impfkampagne zurück, dass die Zahlen derart gesunken sind. „Die schnellen und intensiven Impfungen bei den unter 64-Jährigen könnten zeitweilig so etwas wie Herdenimmunität erzeugt haben“, sagt Kazuhiro Tateda, Professor für Virologie an der Toho-Universität in Tokio.

So seien die Impfquoten von Juli bis September gestiegen, genau als die ansteckendere Delta-Variante sich ausbreitete. Tateda warnte jedoch, dass Impfdurchbrüche in anderen Ländern, in denen die Impfkampagnen früher begannen als in Japan, darauf hinweisen, dass Impfungen allein nicht ausreichten und ihre Wirksamkeit schrittweise nachlasse.

Japan begann Mitte Februar mit den Impfungen, zunächst beim Personal im Gesundheitswesen und in der älteren Bevölkerung. Weil es zu wenig Impfstoff gab, blieb die Zahl der Geimpften bis Ende Mai noch niedrig. Dann aber stabilisierte sich der Import, so dass vor den Olympischen Spielen im Juli rund 1,5 Millionen Impfdosen täglich verabreicht wurden. So stieg die Impfquote von 15 Prozent im Juli auf 65 Prozent Anfang Oktober, das ist etwa so viel wie in Deutschland.

Doch wenige Wochen vor den Olympischen Spielen gingen die Infektionszahlen wieder hoch. Japan zog das Sportereignis durch - bei mehr als 5000 täglichen Neuinfektionen in Tokio und 20.000 landesweit. Vergangenen Sonntag wurden dagegen für Tokio 40 neue Corona-Fälle registriert, landesweit waren es 429 Fälle. Insgesamt haben sich damit in Japan seit Beginn der Pandemie Anfang 2020 rund 1,71 Millionen Menschen mit dem Coronavirus angesteckt, 18.000 sind gestorben.

Aber warum stecken sich jetzt nicht mehr so viele Japaner mit dem Virus an? „Das ist eine schwierige Frage, und da müssen wir den Effekt des Impffortschritts mit einbeziehen, der extrem groß ist“, sagt Norio Ohmagari, Leiter des Zentrums für Krankheitskontrolle und -prävention. „Gleichzeitig könnten sich auch Menschen, die in hochriskanten Umgebungen wie überfüllten und schlecht belüfteten Räumen zusammenkommen, bereits infiziert haben und inzwischen eine natürliche Immunität besitzen.“

Manche spekulieren, dass der Rückgang der Corona-Fälle daran liegt, dass sich weniger Menschen testen lassen. Daten der Stadtverwaltung von Tokio zeigen, dass die Positivrate von im August 25 Prozent auf 1 Prozent Mitte Oktober gesunken ist. Zugleich sank die Zahl der Tests um ein Drittel.

Japans Notstandsmaßnahmen waren keine Lockdowns, sondern bezogen sich vor allem auf Bars und Restaurants, die früh schließen mussten und keinen Alkohol ausschenken durften. Viele Menschen aber pendelten weiterhin in vollen Zügen und besuchten Stadien für Sport- und Kulturereignisse, bei denen es lediglich Abstandsregeln gab.

Inzwischen sind die Notstandsmaßnahmen ausgelaufen, und die Regierung lässt schrittweise mehr soziales und wirtschaftliches Leben zu. So wurden sportliche Wettkämpfe und Pauschalreisen mit Impfzertifikaten und verstärkten Tests probehalber wieder erlaubt. Um die Zahl der Impfungen weiter zu erhöhen, erlaubte der damalige Ministerpräsident Yoshihide Suga es mehr Beschäftigten im Gesundheitssektor, Impfdosen zu verabreichen. Zudem öffneten große Impfzentren, seit Ende Juni wurden auch Impfungen am Arbeitsplatz verstärkt gefördert.

Anfangs hatten viele Experten noch den jüngeren Menschen vorgeworfen, das Virus zu verbreiten. Sie wurden gesehen, wie sie in Parks und auf den Straßen feierten, als die Bars geschlossen waren. Doch Daten zeigen, dass auch zahlreiche 40- bis 60-Jährige die Ausgehviertel besuchten. Die meisten schweren und tödlichen Corona-Fälle wurden bei ungeimpften Menschen bis 50 Jahre registriert.

Takaji Wakita, Leiter des Nationalen Instituts für Ansteckende Krankheiten, sagte kürzlich vor Journalisten, er sorge sich, weil die Menschen wieder feiern gingen. „Wenn wir in die Zukunft blicken, ist es wichtig, die Fallzahlen weiter niedrig zu halten, falls es wieder zu einem Anstieg der Infektionen kommt.“ Am Freitag erklärte der neue Ministerpräsident Fumio Kishida, bis November werde ein Vorsorgeplan erstellt, der auch Freizeitaktivitäten stärker einschränken werde und Krankenhäusern auferlege, für den schlimmsten Fall wieder mehr Betten und Personal für Covid-19-Behandlungen bereitzuhalten. Details nannte er nicht.

Viele Japaner sind aber ohnehin noch vorsichtig im Umgang mit dem Coronavirus. Die Schutzmaske zu tragen, „ist so normal geworden“, sagt Studentin Mizuki Kawano. „Ich mache mir immer noch Sorgen wegen des Virus.“ Und ihre Freundin Alice Kawaguchi ergänzt: „Ich will auch nicht nahe an Menschen herankommen, die keine Maske tragen.“ Gesundheitsexperten fordern derweil eine umfassende Analyse, weshalb die Infektionszahlen gesunken sind. Eine Auswertung von GPS-Daten zeigt, dass sich während des jüngsten Notstands bis Ende September weniger Menschen in den Ausgehvierteln aufhielten.

„Ich glaube, die sinkenden Infektionszahlen haben damit zu tun, dass weniger Menschen feiern gehen — und mit dem Fortschritt bei den Impfungen“, sagt Atsushi Nishida vom Metropolitan-Institut für Medizinwissenschaften in Tokio. Doch als kürzlich der Notstand geendet habe, seien die Menschen wieder in die Ausgehviertel geströmt, sagt er. Das könne „die Infektionslage der kommenden Wochen beeinflussen“.

(peng/dpa)
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