Das Virus und der Alkoholismus Corona verschärft das Alkoholproblem

Analyse | Düsseldorf · Im „Hochkonsumland“ Deutschland greift man nun noch häufiger zu Bier, Wein oder Schnaps als ohnehin schon. Das hat Folgen: Wer jetzt mehr trinkt, rutscht langfristig potenziell in die Abhängigkeit, sagen Suchtforscher.

 Eine Frau trinkt aus einer Weinflasche (Symbolbild).

Eine Frau trinkt aus einer Weinflasche (Symbolbild).

Foto: DPA

Die Deutschen trinken gern und viel, das hat Tradition. Seit den 1990er Jahren sinkt der Alkoholkonsum laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zwar leicht, aber die Bundesrepublik ist weiterhin ein Hochkonsumland. Jährlich sind es etwa 13 Liter purer Alkohol pro Kopf, deutlich mehr als der europäische (rund zehn Liter) und der weltweite Durchschnitt (sechs Liter). Als wäre das nicht schon genug, könnte die Corona-Krise das Problem verschärfen. Mehr als ein Drittel trinkt nach eigenen Angaben seit den Einschränkungen zur Eindämmung der Pandemie mehr, zeigt eine Umfrage des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim und des Klinikums Nürnberg. Die Befragung ist zwar statistisch nicht repräsentativ, aber ein weiterer Hinweis in einer langen Indizienkette. Und sie ist die erste wissenschaftliche Publikation, die für Deutschland zeigt, dass durch Corona die Gefahr eines erhöhten Alkoholkonsums real ist.

Die WHO warnte schon Ende 2019 davor, dass in Zeiten der sozialen Isolation der Alkoholkonsum steigen könnte. Aus früheren Pandemien weiß man, dass sie Alkoholabhängigkeit begünstigen können. Das zeigte eine Studie zur SARS-Epidemie in China 2003. Untersucht wurden 549 Krankenhausmitarbeiter, die in Quarantäne gewesen waren oder auf der Infektionsstation gearbeitet hatten. Je länger das dauerte, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu Alkoholmissbrauch neigen oder gar eine Abhängigkeit entwickeln würden – selbst drei Jahre nach dem Ausbruch.

Aber China ist nicht Deutschland, und Covid-19 ist nicht SARS. Doch in den jüngsten Monaten häuften sich die Hinweise für einen gestiegenen Konsum. Einer davon: Die Deutschen kaufen jetzt mehr Alkohol. Im April und Mai waren es jeweils 23 Prozent mehr als im Vorjahr, das zeigen die Daten des Marktforschungsinstituts GfK. Selbst das ist kein endgültiger Beweis, dass mehr getrunken wird. Für die erhöhten Verkaufszahlen könnte es auch eine andere Erklärung geben – der Konsum hat sich bloß verlagert. Während Bars, Kneipen und Restaurants geschlossen bleiben, trinkt man eben zu Hause.

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Falk Kiefer, ärztlicher Direktor der Klinik Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin in Mannheim, kommt mit seinen Kollegen nach Auswertung ihrer Umfrage zu einem anderen Fazit. „Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass in Deutschland seit Beginn der Krise mehr getrunken wird“, sagt der Suchtforscher. Er und seine Mitautoren nennen die Pandemie im Titel ihres ersten Berichts den „idealen Nährboden für Süchte.“ Von 2000 Befragten sagten 37,4 Prozent, dass sie seit den Einschränkungen mehr oder viel mehr Alkohol trinken als davor. 41 Prozent sagten, sie würden genau so viel trinken wie schon vor der Krise. 21,2 Prozent gaben an, ihren Alkoholkonsum reduziert zu haben.

Die Antworten wurden im April gesammelt, die Befragung läuft seitdem weiter. „Die Ergebnisse bleiben grundsätzlich gleich“, sagt Falk Kiefer. Auch bei 3200 Befragten sagt mehr als ein Drittel, dass es mehr trinkt. „Wir haben recht belastbare Ergebnisse“, sagt Kiefer. Für die These, dass man sich hierzulande in letzter Zeit noch häufiger als sonst ein Gläschen genehmigt, sprechen auch Studienergebnisse aus anderen Ländern. Kiefer zitiert Ergebnisse aus den USA, Australien, Frankreich, Polen. „Die Publikationen zeigen durch die Bank, dass der Alkoholkonsum während der Quarantäne steigt.“

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Doch woher kommt die suchtverstärkende Wirkung der Pandemie? Es kommen zwei Effekte zusammen, erklärt der Suchtforscher. „Die Pandemie bietet eine neue Gelegenheit zum Trinken. Wer schon davor zu Hause abends ein Glas Wein getrunken hat, greift jetzt vielleicht auch nachmittags zu.“ Das ist der sogenannte Pull-Effekt. Dazu kommt der „Push-Effekt“: Die Quarantäne erhöht den Stress. Das wiederum kann zu einem höheren Alkoholkonsum führen.

Die Gefahr liegt nicht beim kurzfristig erhöhten Konsum, sondern in seinen Folgen. Dass sich der Alltag ändere, sei an sich nicht schlimm, sagt Kiefer. „Der Mensch passt sich an. Er geht vielleicht mehr joggen, kümmert sich mehr um die Kinder oder trinkt mehr Cola.“ Schlimm werde es erst dann, wenn es um Suchtmittel gehe. „Alkohol macht psychisch und körperlich abhängig. Wer jetzt mehr trinkt, trinkt oft auch danach mehr. Die Gewöhnung an die höhere Dosis führt nach und nach in die Abhängigkeit.“

Das Bundesgesundheitsministerium antwortet auf eine Anfrage zum Thema zurückhaltend. Die im Ärzteblatt erschienene Umfrage sei bekannt, aber nicht repräsentativ, heißt es auf Anfrage vom Büro der Drogenbeauftragten Daniela Ludwig (CSU). „Wenn wir keine belastbaren Zahlen haben, wollen wir darüber auch nicht spekulieren“, betont ein Sprecher. Der Konsum zu Hause habe sicherlich zugenommen, aber sich vielleicht doch nur von Bars und Kneipen dorthin verlagert. Man warte auf repräsentativen Zahlen, im September rechnet man mit den Ergebnissen.

September könnte zu spät sein. Kiefer und seine Kollegen schreiben in ihren Bericht, dass Prävention „schon während der Akutphase“ der Pandemie wichtig sei. Die Maßnahmen liegen für den Suchtforscher auf der Hand: Eine Option wären höhere Preise. „Nach den vorliegenden Daten ist das die erfolgreichste Maßnahme gegen Alkoholkonsum“, sagt Kiefer. Dass es auch eine sehr unbeliebte ist, fügt er gleich hinzu.

Die gute Nachricht: Es gibt auch Lösungen auf individueller Ebene, für die man nicht auf die Politik angewiesen ist. Sie sind einfacher, als man denkt: Es geht nicht darum, gar keinen Alkohol zu trinken. Es geht nicht einmal darum, weniger zu trinken. „Man sollte seinen Alkoholkonsum nicht erhöhen“, sagt Kiefer. Bloß nicht mehr trinken als davor – selbst für das Hochkonsumland Deutschland klingt das möglich.

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