Corona-Regeln an NRW-Schulen „Outbreak“ mit Siebenjährigen

Meinung | Düsseldorf · Während draußen die Leute wieder im Biergarten sitzen, arbeiten Schulen und Kitas immer noch im Pandemiemodus. Unser Autor meint: Entweder das eine ist dramatisch leichtsinnig – oder das andere dramatisch übertrieben.

 Leere Schulklasse (in Hessen, Archiv).

Leere Schulklasse (in Hessen, Archiv).

Foto: dpa/Arne Dedert

Paul* ist unser Sohn, und Paul geht in die Grundschule. Zweite Klasse. Also: Normalerweise macht er das. Wegen Corona ist er ja die meiste Zeit zu Hause. Seit 14 Tagen dürfen die Kinder immerhin einmal die Woche wieder in die Schule. Wir haben zum Start einen Elternbrief gekriegt, mit 22 Punkten, die wir uns merken müssen. Da steht zum Beispiel drin, dass wir Paul ein eigenes Handdesinfektionsmittel mitgeben dürfen, er das dann aber auf keinen Fall mit anderen Kindern teilen darf. Oder dass bei Brettspielen in der Ganztagsbetreuung jedes Kind einen eigenen Würfel braucht. Sicher ist sicher.

Wenn wir Paul nachmittags abholen, hat seine Klasse vorher am Schulhoftor Aufstellung genommen, alle auf Sicherheitsabstand, alle mit Schutzmaske, auch die Lehrerin. Es sieht ein bisschen aus wie „Outbreak“ mit Siebenjährigen. Ist es ja auch, irgendwie. Die Eltern gehen dann mit ihren Kindern zum Parkplatz, alle ziehen sich ihre Masken ab, und viele unternehmen dann sicher noch was Schönes. In den Zoo zum Beispiel, oder ins Freibad. Schule aus, Corona aus.

Bitte nicht falsch verstehen: Wir sind sehr froh, dass Paul zumindest manchmal wieder in die Schule kann. Wir staunen nur, dass es in NRW gerade zwei Parallelrealitäten zu geben scheint: Eine, in der die Ansteckungsgefahr immer noch so groß ist, dass Kinder nur unter penibelsten Sicherheitsvorkehrungen tageweise in die Schule gelassen werden. Und eine, in der Friseure und Freizeitparks geöffnet sind. In der die Leute zum Vatertag in Biergärten sitzen und nachmittags Bundesliga gucken. Man könnte sagen: Entweder das eine ist dramatisch übertrieben – oder das andere ist dramatisch leichtsinnig. Vielleicht stimmt von beidem ein bisschen.

Ausgerechnet an dieser Frage (Wie ansteckend sind eigentlich Kinder, und was bedeutet das für Schulen und Kitas?) hat sich in den letzten Tagen eine heftige Debatte entzündet: Die „Bild“-Zeitung schoss gegen Deutschlands Chefvirologen Kostenpflichtiger Inhalt Christian Drosten und seine angeblich „grob falsche“ Studie; der Wissenschaftler wehrte sich per Twitter und bekam Rückendeckung von diversen Forscherkollegen. Ist Drosten im Recht, oder hat der Boulevard einen Punkt? Spannend ist diese Debatte zweifellos, aber für viele Familien geht sie am Thema vorbei. „Kinder könnten genauso ansteckend sein wie Erwachsene“, für diese These glauben Drosten und sein Team die wissenschaftlichen Belege gefunden zu haben. „Genauso ansteckend“. Nicht: „Sehr viel ansteckender“. Es gibt derzeit keinen Beleg dafür, dass Kinder größere Virenschleudern sind als ihre Väter, Mütter, Onkels oder Tanten.

Letzte Woche haben wir zum ersten Mal wieder einen größeren Ausflug gemacht, in einen Wildpark am Niederrhein. Tiere gucken und Abenteuerspielplatz. Wir dachten: Da kann man den anderen Leuten ja wahrscheinlich gut aus dem Weg gehen.

Man konnte das nicht. Eine Dame zählte hunderte Besucher am Eingangstor, drinnen war es voll. Auf dem Klo gab es eine Flasche mit Handdesinfektionsmittel, auf dem Klettergerüst gab es Gedränge. Mir war nicht klar, wie sehr ich mich an die 1,50 Meter Sicherheitsabstand gewöhnt hatte, bis mich diese Menschenmenge verschluckte. Eine sehr alte Dame gehörte auch dazu, sie saß im Rollstuhl und hatte sich ihre OP-Maske runtergezogen. Anderer Leute Kinder flitzten um sie herum, drängelten auf der Rutsche, balgten um den besten Platz an der Seilbahn.

Genau die Kinder übrigens, von denen ein großer Teil in NRW noch immer nicht in die Kita darf. Weil das zu gefährlich wäre. Erst ab 8. Juni wird es wieder abgespeckten Regelbetrieb geben, natürlich auch dort mit einem ausgeklügelten Hygienekonzept. Es ist eine schräge Situation: In sehr vielen Bereichen des öffentlichen Lebens preschen wir im Galopp zurück in die Normalität. Nur in Kitas und Schulen treten wir weiter auf der Stelle. In Kitas und Schulen hat nach Pandemie-Zeitrechnung der April nie aufgehört.

Nochmal, bitte nicht falsch verstehen: Ich unterstütze alle Maßnahmen, um diese Seuche in den Griff zu bekommen. Pauls Großeltern gehören zur Risikogruppe wie so viele andere; und kein Prozentpunkt Wirtschaftswachstum ist es wert, Menschenleben zu gefährden.

Aber wenn uns der Schutz vor Covid-19 so wichtig ist, warum sind wir dann nicht konsequent? Und wenn wir nicht konsequent sein können, warum setzen wir die Prioritäten nicht anders?

Genau diese Prioritäten sind inzwischen aus dem Lot geraten. In unseren Innenstädten wird längst wieder gebummelt, in den Parks hocken in Gruppen die Picknicker, und ums Abstandsgebot schert sich kaum noch jemand so recht. Die Maskenpflicht bei Edeka fühlt sich fast schon an wie Folklore; am Kühlregal kommt mir jedenfalls niemand so nahe wie die niederländische Familie neulich am Streichelgehege. Und warum dürfte Paul durchaus einen Indoorspielplatz besuchen, um dort mit einem Rudel anderer Kinder auf der Hüpfburg zu toben, während ein ganz normaler, täglicher Schulbesuch offenbar für viel zu gefährlich gehalten wird? Gerecht, stringent oder wenigstens gut erklärbar ist das alles nicht.

Und das, während Tausende Eltern irgendwie versuchen, ihren Homeoffice-Job, die Kinderbetreuung und den Heimunterricht auf die Reihe zu bekommen. Monate der Schulbildung gehen unseren Töchtern und Söhnen verloren. Kitas können ihren wichtigen Job bei Integration und Förderung benachteiligter Kinder nicht machen. In vielen Familien sind es aus wirtschaftlichen Gründen Kostenpflichtiger Inhalt die Mütter, die jetzt beruflich zurückstecken – mit den absehbaren Folgen für die Gleichstellung von Mann und Frau. All diese Dinge nehmen wir als Gesellschaft gerade in Kauf - aber Hauptsache, die Leute dürfen samstags wieder Teelichter holen bei Ikea. War die Idee nicht mal gewesen, dass wir ganz vorsichtig Aspekte des öffentlichen Lebens wieder freigeben, und zwar die wichtigsten zuerst? An irgendeiner Stelle scheinen wir da vom Weg abgekommen zu sein.

Aber durchhalten müssen wir ja zum Glück nur noch bis zum 26. Juni.

Dann fangen in NRW die Sommerferien an.

* Heißt eigentlich anders.

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