Corona-Krisenmanagement Warum die Kanzlerin nicht durchregieren darf und es auch nicht sollte

Analyse | Düsseldorf · Die Unzufriedenheit mit dem Corona-Krisenmanagement hat zum Ruf nach mehr Einfluss für den Bund geführt: Durchregieren, heißt die Forderung. Doch das ist weder verfassungsrechtlich erlaubt, noch würde es den Prozess grundlegend verbessern.

 Bundeskanzlerin Angela Merkel nach einer der Bund-Länder-Beratungen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel nach einer der Bund-Länder-Beratungen.

Foto: dpa/Markus Schreiber

Die Bürger sind Corona-müde. Das ewige Hangeln von Ministerpräsidentenkonferenz zu Ministerpräsidentenkonferenz, die mal lockert, mal schließt, haben die meisten inzwischen satt. Egal ob Impfgipfel, Schnellteststrategie, Corona-Warn-App – es wird viel geredet, aber nur wenig gehandelt. In der Bekämpfung des Coronavirus sind die verantwortlichen Politiker außer Tritt geraten. Was liegt also näher, als einen neuen Aufschlag zu versuchen: Die Kanzlerin soll durchregieren?

Für diese – nicht ganz ungefährliche – Haltung gibt es jetzt einen juristischen Kronzeugen, den Verfassungsrechtler und Rechtsphilosophen Christoph Möllers. Er lehrt an der Humboldt-Universität in Berlin und hat Bundesregierung und Bundestag vor dem Bundesverfassungsgericht in heiklen Rechtsfragen wie etwa dem NPD-Verbot vertreten. Erst vor Kurzem ließ er aufhorchen, als er im „Spiegel“ erklärte: „Der Bund kann die Bekämpfung der Pandemie gesetzgeberisch abschließend regeln. Der Lockdown ließe sich durch ein Bundesgesetz verhängen.“ Ministerpräsidenten oder andere Mitwirkende auf Länderebene wären nicht notwendig.

Alle Beteiligten haben das bislang stets ausgeschlossen. Die Gesundheitsvorsorge und Infektionsbekämpfung ist laut Verfassung Ländersache. Wiederholt hatte Merkel ihre Machtlosigkeit beteuert und durchblicken lassen, dass sie gerne härter durchgegriffen hätte, ihr die Hände allerdings stets gebunden gewesen seien.

Ein Blick ins Grundgesetz hätte Kanzlerin und Ministerpräsidenten eines Besseren belehrt. Nach Artikel 74 Absatz 1 Nummer 19 kann der Bund die Gesetzgebungskompetenz für alle „Maßnahmen gegen gemeingefährliche und übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren“ an sich ziehen. Ein solches Gesetz bräuchte noch nicht einmal die Zustimmung des Bundesrats, auch die Ausführung der Vorschriften müssten die Länder im Sinne des Bundes leisten. Der zentralismuskritische Staatsrechtler Christoph Degenhart gibt seinem Kollegen Möllers recht. „Ein Maßnahmengesetz mit Detailvorschriften ist im Seuchenfall auch allein auf Bundesebene möglich. Einen Lockdown könnte die Kanzlerin und ihr Kabinett ohne die Länder beschließen.“

Das ist starker Tobak für ein durch und durch föderalistisches System. Und viele frustrierte Wählerinnen und Wähler dürften einem solchen Vorgehen unbedingt zustimmen. Allerdings ist fraglich, ob Merkel mit einem solchen Maßnahmengesetz durchregieren könnte. Der Grundgesetz-Experte Degenhart verneint es. „Das ist verfassungsrechtlich nicht möglich.“ Denn die Kanzlerin müsste in diesem Fall das Parlament ganz anders einbeziehen. Der Bundestag würde die Details entweder direkt im Gesetz festlegen oder der Bundesregierung eine Ermächtigung erteilen. So oder so – von Durchregieren kann keine Rede sein.

Eine Alternative wäre das Infektionsschutzgesetz. Auch darüber könnte man für die Bundesregierung oder den Gesundheitsminister eine Ermächtigungsgrundlage schaffen, per Rechtsverordnung einen Lockdown zu beschließen. Ob das auch für Schulen geht, ist umstritten. Hier könnte eine Klage der für die Bildung zuständigen Länder vor dem Bundesverfassungsgericht durchaus Erfolg haben.

Doch trotz der Chance, ohne die Länder die Pandemie zu bekämpfen, würde Merkel wohl eher nicht diese Möglichkeit ergreifen. Zum einen liebt die Kanzlerin den exekutiven Regierungsstil. Ihr sind Runden mit den Länderchefs und -chefinnen lieber als der mühselige Weg über den Bundestag mit seinen viel zahlreicheren Akteuren. „Die Bundeskanzlerin scheut das Parlament“, meint der Leipziger Staatsrechtler Degenhart. Alle wichtigen Entscheidungen wie den Ausstieg aus der Kernenergie oder die offenen Grenzen für die Flüchtlinge organisierte sie am Parlament vorbei. Als ihre Mehrheit im Bundestag bei den Finanzhilfen für Griechenland immer dünner wurde, verließ sie sich zunehmend auf die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank unter Präsident Mario Draghi.

Der Merkel-Kritiker Degenhart hält aber auch die Runden der Kanzlerin mit den Länderchefs für verfassungsrechtlich bedenklich. „Merkel managt die Corona-Krise mit den Landesfürsten unter weitgehender Ausschaltung des Parlaments“, bemängelt der Rechtsprofessor. Er will mehr Mitsprache der Parlamente, auf Bundes- wie auf Länderebene. „Im vergangenen Sommer wäre durchaus Zeit gewesen, rechtsstaatlich und demokratisch gesicherte Rechtsgrundlagen für Bund und Länder zu schaffen“, meint Degenhart. Es hätte dann parlamentarisch abgesicherte Regeln für die weitgehenden Eingriffe in die Rechte der Bürger gegeben.

Dass Missmanagement auch in zentralistischen Systemen vorkommt, zeigen die Beispiele Niederlande und Frankreich. Dort ist die Zahl der Infektionen, Intensivbehandlungen und Todesfälle relativ gesehen viel höher als in der Bundesrepublik. Sowohl französische als auch niederländische Patienten wurden in deutschen Krankenhäusern behandelt.

Die Abstimmung mit den Länderchefs ist Merkel noch aus einem anderen Grund wichtig. Ihr ist der größtmögliche Konsens unter Demokraten wichtig. Die Kanzlerin setzt auf kooperative Demokratie, nicht so sehr auf Streitkultur. Und wenn etwas schiefgeht – wie vor allem jetzt –, ist sie auch nicht allein verantwortlich.

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