Einschätzung von Virologe Drosten Corona-Variante B.1.617 ist nicht allein Ursache für Lage in Indien

Berlin · In Indien schießen die Fallzahlen in die Höhe. Und eine Virusvariante wird entdeckt. Hat sie die Lage verursacht? So einfach ist es aus Sicht des Experten für Coronaviren, Christian Drosten, nicht.

Der Virologe Christian Drosten zeigt sich angesichts der bisherigen Erkenntnisse über die indische Corona-Variante B.1.617 weiter relativ gelassen. Anhand der sehr kleinen verfügbaren Datenbasis lasse sich schließen, dass die Mutante nicht allein die heftige Infektionswelle in dem Land verursache, „sondern das ist mehr eine bunt gemischte Virus-Population“, sagte der Wissenschaftler von der Charité in Berlin im Podcast „Coronavirus-Update“ (NDR-Info) vom Dienstagabend. Auch die ansteckendere Variante B.1.1.7, die mittlerweile hierzulande dominiert, sei stark vertreten.

In Indien kommen derzeit aus Sicht Drostens mehrere Effekte zusammen: Herdenimmunität sei dort einer Studie zufolge bei weitem noch nicht erreicht gewesen. Es werde nun eine Bevölkerung durchseucht, die schon ein bisschen die Anfangsimmunität aus den bisherigen Wellen zu verlieren beginne, sagte der Virologe. Gleichzeitig sei die Variante B.1.617 etwas verbreitungsfähiger und robuster gegen die Immunität. In der Fachsprache ist von Immunescape (Immunflucht) die Rede. Diese Eigenschaft sei bei B.1.617 leicht ausgeprägt. Das sei auch im Vergleich mit anderen Varianten „nichts, was einen wirklich groß beunruhigt“.

Im Moment halte er die Variante B.1.617 „in der Medienbewertung (für) überschätzt“, sagte Drosten. Auch gebe es keine Belege, dass Menschen durch sie schwerer erkrankten. „Wenn viele Leute zur gleichen Zeit infiziert werden, dann hat man auch bei den jüngeren Altersgruppen auf einmal, absolut gesehen, ganz viele Kranke in einem kurzen Zeitfenster.“ In Indien sei zudem die Grundgesundheit der Bevölkerung weniger gut als in Deutschland, was den Effekt der jüngeren Bevölkerung wieder etwas ausgleiche. Drosten machte aber deutlich, dass sich der Sachstand ändern kann: „Es kann sein, dass in zwei Monaten sich herausstellt, dass doch irgendwas ist mit diesem Virus.“

Die zuerst in Indien entdeckte Corona-Variante B.1.617 ist nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits in mindestens 17 Ländern nachgewiesen worden. Das geht der Organisation zufolge aus mehr als 1200 Sequenzen hervor, die bis Dienstag in die Datenbank Gisaid eingespeist wurden. Die meisten der Nachweise stammten demnach aus Indien, Großbritannien, den USA und Singapur.

Beobachter führen den dramatischen Anstieg der Infektionszahlen in Indien auch auf die Variante B.1.617 zurück. Allein am Dienstag meldeten die Gesundheitsbehörden in Indien 350.000 Neuinfektionen mit dem Coronavirus.

Vorläufige Studienergebnisse deuteten darauf hin, dass sich B.1.617 schneller ausbreite als andere in Indien zirkulierende Corona-Varianten, erklärte die WHO. Die Organisation betonte zugleich, dass es "weitere Treiber" für den Anstieg der Infektionszahlen in Indien geben könne, darunter Massenveranstaltungen und ein laxer Umgang mit den Corona-Regeln.

Zum Thema Impfen sagte der Virologe, es könne jetzt schon geplant werden, dass in Deutschland „mehr als nur sehr eng umgrenzte Risikogruppen“ zum Winter hin eine einmalige Auffrischung bekommen - wie bei der Grippeschutzimpfung. Wahrscheinlich könnten dann bereits Impfstoffe mit einem Update zu neuen Varianten zum Einsatz kommen.

Bestimmte Antikörper auf der Schleimhaut von Genesenen und Geimpften ließen mit der Zeit wieder nach, erläuterte der Virologe. Es gehe aber nicht um Schwarz-Weiß-Effekte. Wie lange dieser Schleimhaut-Schutz nach einer Corona-Impfung hält, sei noch nicht bekannt. Aber in Grenzen könnten auch Geimpfte eine gewisse Zeit nach der Impfung wieder zur Weitergabe des Virus beitragen. Wie effizient diese Weitergabe ist, sei aber noch unklar.

Die bisherigen Studien zeichneten ein Bild der Corona-Impfstoffe zum Zeitpunkt relativ kurz nach der Impfung - wenn Geimpfte den optimalen Immunschutz aufgebaut haben, betonte Drosten. Nach ein paar Monaten werde sich das Bild ändern. „Dann werden diese Impfstoffe wahrscheinlich nicht mehr so gut belastbar aussehen, was die Weitergabe des Virus angeht.“ Das müsse in der Öffentlichkeit mit bedacht werden. „Es sollte auch nicht skandalisiert werden.“

   Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie der Charité Berlin, äußert sich im Corona-Podcast zu aktuellen Themen.

Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie der Charité Berlin, äußert sich im Corona-Podcast zu aktuellen Themen.

Foto: dpa/Michael Kappeler

Bei Atemwegserkrankungen sei die Lage nun einmal anders als etwa bei Masern, die Immunität gegen solche Schleimhaut-Viren sei nichts Lebenslanges. Man dürfe nun auch nicht denken, dass die Pandemie nie aufhöre, betonte Drosten. „Was wir hier sehen, sind ganz normale Beobachtungen, die wir auch erwarten während sich so ein Virus einspielt und auf dem Weg ist zu einer endemischen Situation.“

(june/dpa)
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