Dramatische Hilferufe aus Indien „Das Virus verschlingt die Menschen wie ein Monster“

Neu Delhi · Das Gesundheitssystem und auch die Krematorien und Friedhöfe in Indien sind überlastet, nun bietet Deutschland Nothilfen an. Weltärztepräsident Montgomery fordert umfassende Maßnahmen zur Eindämmung der indischen Virus-Mutation.

Indien verzeichnet täglich Tausende Corona-Tote
17 Bilder

Indien verzeichnet täglich Tausende Corona-Tote

17 Bilder
Foto: AP/Channi Anand

Indien hat erneut einen Höchstwert an Corona-Neuinfektionen verzeichnet. Binnen 24 Stunden wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums vom Sonntag 349.691 neue Fälle verzeichnet. Dies ist zugleich ein weltweiter Tageshöchstwert. 2767 Menschen starben an oder mit Covid-19. Dies ist die bisher höchste Todeszahl in Indien. Den vierten Tag in Folge wurden in Indien mehr als 300.000 Neuinfektionen und über 2000 Tote registriert.

Experten zufolge könnte die tatsächliche Zahl der Corona-Toten wesentlich höher sein, da vermutete Fälle nicht mitgezählt werden und es oft Vorerkrankungen zugeschrieben wird, wenn Patientinnen und Patienten am Coronavirus sterben.

Indien hat gut 1,3 Milliarden Einwohner, so dass sich eine vergleichsweise mäßige Sieben-Tage-Inzidenz von rund 132 Fällen pro 100.000 Einwohner ergibt. Das Gesundheitssystem des Schwellenlandes ist aber völlig überlastet. Es fehlt an Betten, antiviralen Medikamenten und medizinischem Sauerstoff. „Bitte helft uns, Sauerstoff zu bekommen, sonst kommt es hier zu einer Tragödie“, wandte sich der Chef-Minister der Hauptstadt-Region Delhi, Arvind Kejriwal, an Ministerpräsident Narendra Modi. Auch Krankenhäuser wie das Pentamed Hospital in Neu Delhi senden immer wieder SOS-Nachrichten zum Sauerstoffmangel.

„Es ist als ob wir mitten in einem Krieg seien“

Krematorien und Friedhöfe sind derweil überlastet. In der Stadt Bhopal muss auf eine Feuerbestattung stundenlang gewartet werden, wie dort zu hören war. Mitarbeiter des Krematoriums Bhadbhada Vishram Ghat berichteten, dass sie am Samstag mehr als 110 Leichen verbrannt hätten, obwohl die offizielle Zahl der Toten in der Stadt mit 1,8 Millionen Einwohnern zehn war. „Das Virus verschlingt die Menschen unserer Stadt wie ein Monster“, sagte Mamtesh Sharma.

Die beispiellose Zahl neuer Leichen zwang das Krematorium, individuelle Zeremonien und ausgiebige Rituale auszusetzen, von denen Hindus glauben, dass sie die Seele aus dem Kreislauf der Wiedergeburt befreien. „Wir verbrennen die Leichen einfach, wenn sie kommen“, sagte Sharma. „Es ist als ob wir mitten in einem Krieg seien.“ Der leitende Totengräber des größten muslimischen Friedhofs von Neu Delhi, Mohammad Shameem, sagte: „Ich fürchte, dass uns sehr bald der Platz ausgeht.“

Vor überfüllten Krankenhäusern starben manche Menschen, während sie auf der Straße darauf warteten, einen Arzt oder eine Ärztin zu sehen. Beschäftigte des Gesundheitswesens versuchen, Intensivstationen zu vergrößern und die schwindenden Sauerstoff-Vorräte aufzufüllen. Krankenhäuser kämpfen ebenso wie Patientinnen und Patienten darum, knappe Medizinprodukte aufzutreiben, die oft zu überhöhten Preisen verkauft werden.

 Angehörige von Corona-Patienten stehen in Neu Delhi mit leeren Sauerstoffzylindern vor einer Abfüllstation.

Angehörige von Corona-Patienten stehen in Neu Delhi mit leeren Sauerstoffzylindern vor einer Abfüllstation.

Foto: dpa/Naveen Sharma

Ein Gericht in der Metropole Delhi, zu der die Hauptstadt Neu-Delhi gehört, forderte die Regierung auf Initiative mehrerer Krankenhäuser zum Handeln auf. „Es ist ein Tsunami. Wie versuchen wir Kapazitäten aufzubauen?“, fragte das Gericht an die Adresse der Regierung. Diese setzt bereits Militärflugzeuge und Züge ein, um Sauerstoff aus verschiedenen Regionen im In- und Ausland nach Delhi zu bringen. Premierminister Narendra Modi sagte in einer Rundfunkansprache, die Regierung tue alles, um die Einzelstaaten im Kampf gegen Covid-19 zu unterstützen.

Indiens hat bisher 16,9 Millionen Corona-Infektionen registriert und steht damit weltweit an zweiter Stelle hinter den USA. Allerdings hat Indien mehr als viermal so viele Einwohner. Experten führen den raschen Anstieg der Fälle auf eine verbreitete Sorglosigkeit in der Bevölkerung und auf neue, gefährlichere Virusvarianten zurück.

Regierung will kritische Stimmen unterdrücken

Noch im Januar hatte Ministerpräsident Narendra Modi das Coronavirus für besiegt erklärt. Die Inderinnen und Inder seien dadurch verleitet worden, auf Maßnahmen zur Verringerung der Ansteckungsgefahr zu verzichten, sagte Krutika Kuppalli, Assistenzprofessorin für Medizin an der Abteilung für Infektionskrankheiten der Medical University of South Carolina in den USA. Sie hätten aber besser weiterhin Abstand halten sollen, Masken tragen sollen und große Menschenmengen vermeiden sollen.

 Hunderte von Wanderarbeitern warten Anfang der Woche an einem Busbahnhof auf die Abfahrt in ihre Dörfer.

Hunderte von Wanderarbeitern warten Anfang der Woche an einem Busbahnhof auf die Abfahrt in ihre Dörfer.

Foto: dpa/Uncredited

Modi wird dafür kritisiert, hinduistische Festivals und große Wahlkampfveranstaltungen zugelassen zu haben, die Experten zufolge zur Ausbreitung des Virus beitrugen.

Die Regierung hat die Industrie gebeten, die Produktion von Sauerstoff und knappen lebensrettende Medikamenten auszuweiten. Gesundheitsexperten sagen, Indien habe ein Jahr Zeit gehabt, um sich auf eine Lage wie die derzeitige vorzubereiten und habe es nicht getan. Der Staat hätte Vorräte an Medikamenten anlegen sollen, sagte Kuppalli.

Modis hinduistisch-nationalistische Regierung versucht, kritische Stimmen zu unterdrücken. Twitter befolgte am Samstag eine Regierungsanweisung, mehr als 50 Tweets für Inderinnen und Inder unsichtbar zu machen, die den Umgang der Regierung mit der Pandemie zu kritisieren schienen. Sie stammten unter anderem von Funktionären aus der Opposition, Journalisten und gewöhnlichen Indern. Twitter teilte mit, dies sei in Reaktion auf eine staatliche Anordnung erfolgt.

 Indiens Premierminister Narendra Modi (Archiv).

Indiens Premierminister Narendra Modi (Archiv).

Foto: AFP/DIPTENDU DUTTA

„Geste der Solidarität“ aus Pakistan

Nun hat Pakistan seinem Erzrivalen Indien die Lieferung medizinischer Güter angeboten. Als eine „Geste der Solidarität“ mit der indischen Bevölkerung wolle man Beatmungsgeräte, digitale Röntgengeräte, Schutzkleidung und andere Ausrüstung bereitstellen, teilte das pakistanische Außenministerium in einer Aussendung am späten Samstagabend (Ortszeit) mit.

Die Behörden Pakistans und Indiens könnten Modalitäten für die schnelle Lieferung der Hilfsgüter ausarbeiten, hieß es weiter. Man könne zudem nach Möglichkeiten für eine weitere Zusammenarbeit suchen, um die mit der Pandemie verbundenen Herausforderungen zu bewältigen.

Einreiseverbot aus Indien nach Deutschland

Deutschland kündigte am Sonntagmittag Nothilfen für Indien an. „Deutschland steht Seite an Seite in Solidarität mit Indien. Wir bereiten so schnell wie möglich eine Unterstützungsmission vor“, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Sonntag in Berlin nach Angaben ihres Sprechers Steffen Seibert. „Der Kampf gegen die Pandemie ist unser gemeinsamer Kampf.“

Unterdessen hat Deutschland aus Sorge vor einer Verschärfung der Pandemie einen Stopp für Einreisen aus Indien angekündigt. Die Bundesregierung erklärt das Land nun doch zum Virusvariantengebiet erklären – und zwar ab Montag. In Deutschland gilt dann ein weitgehendes Einreiseverbot für Menschen, die sich zuvor in Indien aufgehalten haben. Ausnahmeregelungen gibt es beispielsweise für Deutsche und für Ausländer mit Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik. Auch sie müssen allerdings schon vor der Einreise einen negativen Corona-Test vorweisen und sich nach Ankunft in Quarantäne begeben.

Weltärzte-Präsident Frank Ulrich Montgomery hat umfassende Notmaßnahmen gefordert. „Die indischen Krankenhäuser sind überfüllt. Es gibt keinen Sauerstoff zur Beatmung mehr, und viele Menschen sterben ohne eine Behandlung erhalten zu haben. Hinzu kommt, dass die sogenannte indische Variante ansteckender und im Krankheitsverlauf schlimmer zu sein scheint, als bisher bekannte Mutationen“, sagte Montgomery unserer Redaktion.

„Daher sind alle Maßnahmen der Kontakteinschränkung gegenüber potentiell hiermit Infizierten gerechtfertigt. Dazu gehören Flug- und Einreiseverbote, strenge und überwachte Quarantäne für alle Heimkehrer aus diesen Risikogebieten aber natürlich genauso Hilfsangebote an die Regierungen dieser Länder, damit – in unser aller Interesse – die Infektionen so erfolgreich wie möglich bekämpft werden“, sagte Montgomery.

Er verwies auf die vergangene Vorstandssitzung des Weltärztebundes, bei der eine Notfall-Resolution verabschiedet wurde. Darin fordert der Weltärztebund die internationale Staatengemeinschaft auf, Länder wie Indien und Brasilien mit Hilfen zu unterstützen, darunter mit Sauerstoff, Medikamenten und Schutzausrüstung. „Die Pandemie wird nicht enden, bis wir Covid in jeder Nation bekämpfen, und jetzt ist es Zeit für globale Kooperation, Solidarität und Unterstützung füreinander“, heißt es in der Resolution.

„Um unsere Impfkampagne nicht zu gefährden, muss der Reiseverkehr mit Indien deutlich eingeschränkt werden“, hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) den Zeitungen der Funke Mediengruppe gesagt. In der Bundesregierung gibt es nach dpa-Informationen auch Überlegungen, den Flugverkehr mit Indien vorübergehend zu stoppen. Wie es in Regierungskreisen hieß, wird die Entscheidung darüber im Bundesverkehrsministerium seit Tagen vorbereitet. Thema seien nicht nur Direktflüge, sondern auch Flüge über Airports am Golf sowie am Bosporus. Entschieden sei aber noch nichts.

Nach dpa-Informationen hatte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zuvor eingeschaltet und zur Vorsicht aufgerufen – nachdem Indien nach einer entsprechenden Einschätzung des Robert Koch-Instituts zwar als Hochrisikogebiet, jedoch noch nicht als Virusvariantengebiet eingestuft worden war.

Die Regeln für Virusvariantengebiete sind deutlich strenger: Einreisende müssen für 14 Tage in Quarantäne ohne Verkürzungsmöglichkeit. Außerdem dürfen Fluggesellschaften bestimmte Personengruppen aus diesen Regionen nicht befördern. Das führt dann meist dazu, dass nur noch wenige Flüge angeboten werden.

Die indische Corona-Variante B.1.617 steht bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unter Beobachtung. In Deutschland ist diese Variante bislang kaum aufgetreten. Stand Freitag soll sie bundesweit in 25 Fällen nachgewiesen worden sein. Als Virusvariantengebiet sind derzeit unter anderem Südafrika und Brasilien ausgewiesen, wo jeweils als besorgniserregend eingestufte Varianten des Coronavirus kursieren.

(hebu/jd/dpa/AP/Reuters)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort