Corona-Pandemie Die zweite Welle überrollt Belgien

Brüssel · Die Regierung in Brüssel kapituliert vor der Pandemie. In einigen Kliniken muss positiv getestetes Personal arbeiten. Und auch die europäische Politik leidet.

 In den belgischen Krankenhäusern, wie hier im CHR-Krankenhaus Citadelle in Lüttich, stoßen die Intensivstationen an die Grenzen ihrer Kapazität.

In den belgischen Krankenhäusern, wie hier im CHR-Krankenhaus Citadelle in Lüttich, stoßen die Intensivstationen an die Grenzen ihrer Kapazität.

Foto: dpa/Francisco Seco

Belgien ist nach Tschechien das Land in Europa, das am schwersten von der zweiten Corona-Welle getroffen ist. Vergangenen Samstag wurden 17.568 neue Corona-Infektionen festgestellt. Im Vergleich zu Deutschland wird deutlich, wie die Pandemie im Nachbarland um sich greift: Am gleichen Tag wurden in Deutschland 14714 Neuinfektionen gemeldet. Da Deutschland etwa acht Mal so viele Einwohner wie Belgien hat, würden die 17.568 Infizierten am Samstag vor einer Woche mehr als 140.000 neuen Fällen in Deutschland entsprechen.

Kein Wunder, dass Frank Vandenbroucke, Gesundheitsminister in der neuen belgischen Regierung, öffentlich vor dem Virus kapitulierte: „Wir haben die Krankheit nicht mehr unter Kontrolle.“ Besonders schlimm ist die Lage in Brüssel und in der französischsprachigen Wallonie. In Lüttich und weiten Teilen von Brüssel wurden mehr als 2000 Infektionen pro 100.000 Einwohner in den vergangenen 14 Tagen gezählt. Etwa zwei Prozent der dortigen Bevölkerung sind damit derzeit nachweislich infiziert.

Die Belgier testen deutlich mehr als die Deutschen. Derzeit werden hier am Tag rund 65.000 Tests durchgeführt, in Deutschland lag dieser Wert zuletzt bei etwa 260.000 und damit, bezogen auf die Bevölkerung, nur halb so hoch. Die Positivquote bei den Tests ist in Belgien mit mehr als 18 Prozent auch sehr hoch. Jeder fünfte Test ist ein Treffer. In Deutschland waren zuletzt im Schnitt drei Prozent der Tests positiv.

Unter der Pandemie leidet auch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Ein Sprecher teilte am Montag mit: „Die zweite Welle trifft die EU-Hauptstadt Brüssel derzeit mit voller Härte.“ In Absprache mit den EU-Partnern habe man entschieden, „physische Sitzungen“ auf Expertenebene bis auf Weiteres auf das „unbedingt erforderliche Maß“ zu reduzieren. Auch Videositzungen würden mit Rücksicht auf die knappen Ressourcen auf „prioritäre Themen“ beschränkt.

Die Zahl der Covid-Toten ist wieder auf täglich 79 gestiegen. In Deutschland liegt dieser Wert bei 29. Am Tag werden derzeit im Schnitt knapp 500 neue Covid-Patienten in belgische Kliniken eingeliefert. Die Belastungsgrenze mit 2000 Intensivbetten ist bald erreicht. In Lüttich konnten bereits in der vergangenen Woche die ersten Intensivpatienten nicht mehr versorgt werden, sondern mussten in andere Kliniken des Landes gebracht werden. Es kommt zu großen personellen Engpässen auf den Stationen, weil viele Ärzte und Pfleger infiziert oder in Quarantäne sind. Die Lütticher CHU-Klinik, wo derzeit 18 Prozent des Personals ausfallen und von 248 Covid-Patienten 39 auf der Intensivstation liegen, wirbt in den sozialen Medien um Freiwillige. Sprecher Louis Marraite sagte: „Zum Glück bekommen wir gute Reaktionen.“ In der Nachbarklinik Montlegia ist die Personalnot so groß, dass positiv getestete Mitarbeiter gehalten sind, zur Arbeit zu kommen, wenn sie keine Symptome haben: „Sie bekommen extra Schutzkleidung.“

Warum gerade Belgien? Darüber debattieren auch die Belgier. Viel früher als anderswo wurden die Regeln in der zweiten Welle verschärft. Bereits im August galt in den Städten weitgehend Maskenpflicht. Auf den Bürgersteigen geben Pfeile die Laufrichtung an. Soziale Kontakte wurden deutlich stärker eingeschränkt als in Deutschland. So darf eine Familie innerhalb von 14 Tagen nur – die immer gleichen – vier Personen nach Hause einladen. Liegt es daran, dass die Belgier Familie so großschreiben? Oder dass die Bevölkerung – auch wegen der Nato und den EU-Institutionen – so international und mobil ist?

Es kann nur eine Erklärung für die Entwicklung geben: Die Bürger halten sich nicht an die Regeln. Die Belgier, egal ob Flamen oder Wallonen, haben ein distanziertes Verhältnis zu ihrem Staat. Taxifahrer fahren in entgegengesetzter Richtung durch Einbahnstraßen. Obwohl die Restaurants lange dicht sein müssen, haben viele noch eine Hintertür geöffnet, durch die treue Kundschaft Einlass findet.

So wurde etwa der Chef der flämischen Christdemokraten, Joachim Coens, vergangene Woche bei einem Glas Wein zum Lunch in einem Restaurant erwischt, in dem eigentlich nur Hotelgäste konsumieren dürfen. Die flämische Tageszeitung „De Morgen“ schreibt dazu: „Die Lust zu improvisieren hat Brüssel zwischen 1940 und 1944 (Anm. d. Red.: während der deutschen Besatzung) zu dem besten Ort gemacht, wo man sich als Jude oder Widerstandskämpfer verstecken konnte. Aber in Covid-Zeiten will man hier nicht sein.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort