Kassenärzte-Chef Gassen zu Corona-Lockerungen „Wir brauchen einen Plan für die Freiheit“

Interview | Düsseldorf · Deutschland müsse lernen, mit Corona zu leben, sagt der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen. „Bei der Influenza haben wir in manchen Jahren Zehntausende Tote. Das müssen wir auch bei Corona akzeptieren.“

 Andreas Gassen ist Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.

Andreas Gassen ist Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.

Foto: dpa/Michael Kappeler

Die Inzidenzen gehen hoch, die Lage in den Kliniken ist aber überschaubar. Haben wir das Schlimmste überstanden?

Gassen Omikron ist sehr ansteckend, aber nicht so krankmachend wie Delta. Wir sind zum Glück deshalb aktuell weit von einer Überlastung des Gesundheitssystems entfernt, auch wenn nun ein neuer Subtyp auftaucht.

Waren die dramatischen Warnungen von Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Institutes (RKI), vor Weihnachten also übertrieben?

Gassen Herr Wieler ist häufig im Alarmmodus. Wenn man aber immer wieder den Weltuntergang ausruft, wenden sich die Bürger irgendwann ab. Wir müssen ihnen vielmehr eine Perspektive geben.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann will eine Corona-Politik ohne Forscher und verbittet sich unter Verweis auf den Soziologen Max Weber weitere Einmischungen. Was sagen Sie?

Gassen Natürlich entscheidet Politik - aber sie sollte sich von Experten beraten lassen, gerade in einer komplexen Pandemie. Das macht es doch auch leichter, die Bevölkerung zu gewinnen und die Maßnahmen gerichtsfest zu begründen. In der Vergangenheit wurden doch auch die bisherigen Einschränkungen immer damit erklärt, dass diese wissenschaftlich begründet seien, insofern war ich ob der Äußerung etwas irritiert.

Dänemark macht auf und hebt fast alle Beschränkungen auf. Ist das ein Vorbild für Deutschland?

Gassen Dänemark ist in der Omikronwelle zeitlich vor uns, hat eine höhere Impfquote und eine bessere Datenlage. Die Dänen sind mutiger und sachlicher als wir. Sie sagen klar: Das Sterberisiko von jungen Menschen liegt fast bei null, erst recht, wenn sie geimpft sind.

Was heißt das für Deutschland?

Gassen Manche meinen, die Pandemie sei erst vorbei, wenn keiner mehr an Corona stirbt. Das ist ein Irrtum: Corona wird wohl dauerhaft Teil des Krankheitsgeschehens bleiben. Bei der Influenza haben wir auch stets neue Varianten, in manchen Jahren Zehntausende Tote. Das müssen wir auch bei Corona akzeptieren und zugleich weiter Impfungen für Risikogruppen anbieten und empfehlen.

Im Herbst haben Sie einen Freedom Day für Deutschland gefordert, an dem alle Beschränkungen fallen. Brauchen wir jetzt einen Freedom Day?

Gassen Im Herbst war von Omikron noch nichts zu sehen. Was wird jetzt aber trotzdem brauchen, ist ein Freedom Plan – ein Plan, wie wir schrittweise und an Parametern orientiert lockern. Diesen Freedom Plan zu formulieren, ist nun wichtigste Aufgabe der Politik. Die letzte Ministerpräsidenten-Konferenz hat hierzu eine Öffnungsklausel formuliert. Diesen Weg gilt es konsequent umzusetzen.

Welche Beschränkungen könnten denn zuerst fallen?

Gassen Bei allem, was draußen stattfindet, können wir entspannter sein. 2G im Handel brauchen wir bald auch nicht mehr- da stimme ich unserem Finanzminister Lindner zu. Die meisten Infektionen gibt es im Privaten und am Arbeitsplatz. Die 3G-Regeln am Arbeitsplatz wird man daher noch eine Weile brauchen.

Was ist mit den Fußball-Stadien, über die Bund und Länder bald beraten?

Gassen Fußball findet vor allem draußen statt, hier wird man bald wieder zunehmend vollere Stadien zulassen können. hier könnte man dann begleitend zunächst bei der 3G-Regel bleiben. Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen.

Angesichts von Omikron wurden die Quarantäne-Fristen verkürzt. Reicht das?

Gassen Es ist gut, dass Bund und Länder die Fristen verkürzt haben. Aber sie sollten prüfen, ob das reicht: Angesichts der milden Verläufe und der Personalausfälle ist eine Verkürzung oder gar Abschaffung der Quarantäne für Kontaktpersonen denkbar. Auch bei Schülern muss man sich Gedanken machen. Bei konsequenter Testung kann man bei Geimpften womöglich ganz auf Quarantäne verzichten.

Werden wir im nächsten Winter noch Masken tragen?

Gassen Wir werden sicher weiter Masken sehen, weil Menschen sich freiwillig schützen wollen. Ob wir gegebenenfalls noch in einzelnen Bereichen eine Maskenpflicht brauchen, weiß ich nicht. Die USA kommen überwiegend mit einer Empfehlung aus.

Ärzte impfen wie Weltmeister, trotzdem ist Deutschlands Impfquote unter 80 Prozent. Was kann man tun?

Gassen Zunächst muss man sagen, dass das RKI offensichtlich selbst von einer bis zu fünf Prozent höheren Impfquote ausgeht als publiziert. Unabhängig davon wird der neue Impfstoff Novavax nochmal einen kleinen Schub bringen, weil er manchen Kritiker der mRNA-Impfstoffe überzeugt. Einige warten auf Omikron-angepasste Impfstoffe, auch wenn das nicht notwendig ist. Andere sagen: Wegen etwas Husten lasse ich mich doch nicht impfen. Denen möchte ich erwidern: Wir impfen nicht gegen Husten, wir impfen gegen volle Intensivstationen.

Wenn der Omikron-angepasste Impfstoff kommt, wird es einen neuen Ansturm geben. Wer sollte ihn zuerst bekommen?

Gassen Als erstes sollten ihn die Menschen bekommen, denen die dritte Impfung fehlt und die Menschen, die noch gar nicht geimpft sind. Eine weitere Massenimpfung für Geboosterte halte ich dagegen nicht für sinnvoll: Wer dreimal geimpft ist, hat einen guten Schutz. Wir können die Menschen nicht alle vier Monate impfen. Ausnahmen sind Risikopatienten.

Nächste Woche starten die Apotheken mit dem Impfen. Ist das gut?

Gassen Die Einbeziehung der Apotheken ist ein unnötiger Marketing-Gag. Zahlenmäßig bringt sie nichts: 80.000 Praxen impfen, was sollen da wenige tausend Apotheker bringen? Es fehlt nicht an Impfangeboten sondern an der Nachfrage. Hinzu kommt die Sicherheitsfrage: Nicht die Injektion ist das Problem, sondern die zugebenermaßen sehr seltenen Impfrisiken wie der extrem selten drohende anaphylaktische Schock. Ich wünsche jedem Betroffenen, dass er diesen nicht in einer Apotheke erleidet.

Sollen wir die Impfzentren schließen?

Gassen Das sollte man regional entscheiden. Die Impfzentren sind grundsätzlich teuer, das spricht dafür, sie im Frühjahr gegegebenfalls zu schließen und ausgewählte Zentren in Standby zu halten.

Am 15. März startet die Impfpflicht für Krankenhäuser und Pflegeheime. Soll man sie angesichts der auftretenden Probleme bei der Kontrolle noch stoppen?

Gassen Wer in einem medizinischen Beruf arbeitet, hat eine moralische Verpflichtung, Patienten und auch sich selbst zu schützen. Trotzdem ist, regional unterschiedlich, ärztliches und nichtärztliches Personal teilweise nicht geimpft. Ob die Impfpflicht daran etwas ändert, wird zunehmend fraglich: Die Gesundheitsämter sehen sich verständlicherweise nicht in der Lage, sie zu kontrollieren. Der Personalmangel wird durch die Impfpflicht mit hoher Wahrscheinlichkeit noch verschärft. Die Politik hat die einrichtungsbezogene Impfpflicht beschlossen. Jetzt muss sie auch entscheiden, ob sie den Start der Impflicht verschiebt. Diese Frage wird sich in größerem Maßstab auch bei der allgemeinen Impfpflicht stellen.

Sie sind dagegen …

Gassen Das ist eine politische Entscheidung. Es gibt in der Ärzteschaft Verfechter und Gegner einer Impfpflicht. Wenn Politik aber eine allgemeine Impfpflicht einführt wird, muss die Politik auch Antworten haben auf Fragen wie: Wer lädt wen ein? Wer kontrolliert? Wie oft wird womit wo geimpft? Wie lange gilt diese Regelung? Wie lange ist die Impfung gültig? Diese Fragen sind umso wichtiger, da offensichtlich völlig klar ist, dass eine Impfpflicht an der Omikronwelle nichts mehr ändert und man diese Pflicht wegen einer möglichen, neuen bisher unbekannten möglicherweise gefährlichen Variante einführen will, gegen die dann ja auch noch ein Impfstoff entwickelt oder angepasst und massenverfügbar hergestellt werden muss.

Wie gut ist Karl Lauterbach als Minister? Macht er es besser als Jens Spahn?

Gassen Wir haben einen engen, vertrauensvollen Austausch, der von gegenseitigem Respekt geprägt ist. Karl Lauterbach geht das Amt als Mediziner an, Jens Spahn war eher ein homo politicus, dabei hat er auch nicht alles falsch gemacht. In einer Pandemie ist dieses Amt für jeden hart.

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