Politische und juristische Debatte Wie eine allgemeine Impfpflicht verfassungsrechtlich bewertet wird

Karlsruhe · Eine Impfpflicht greift in mindestens ein Grundrecht ein. Das darf sie nur, wenn verschiedene Bedingungen erfüllt sind. So muss sie unter anderem geeignet, erforderlich und angemessen sein. Eine Einschätzung.

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Foto: dpa-tmn/Wolfgang Kumm

Politisch ist sie heiß umstritten, und auch juristisch ist nicht alles geklärt: Voraussichtlich im März berät der Bundestag über die Vorschläge zur allgemeinen Corona-Impfpflicht. Für Juristen stellt sich vor allem die Frage, ob sie mit dem Grundgesetz vereinbar wäre. Weitgehend unstrittig ist, dass eine allgemeine Impfpflicht in mindestens ein Grundrecht eingreift, nämlich das der körperlichen Unversehrtheit.

In diese darf nur mit einem Gesetz eingegriffen werden, und dieses Gesetz wiederum muss verfassungsrechtlich zu rechtfertigen sein. Dafür muss es verschiedene Bedingungen erfüllen: Es muss ein legitimes Ziel verfolgen und geeignet, erforderlich und angemessen sein.

Legitimes Ziel

Was könnte das legitime Ziel einer Impfpflicht sein? Der Schutz der eigenen Gesundheit wäre es nicht, heißt es in einer Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags vom Ende vergangenen Jahres. Kranke Menschen dürften nicht genötigt werden, sich medizinisch behandeln zu lassen, und noch weniger dürften Gesunde vorbeugend dazu genötigt werden.

Bleiben der Schutz Dritter vor Krankheit und einschränkenden Maßnahmen und der Schutz des Gesundheitswesens. Mit Letzterem wurden bislang die meisten Corona-Eindämmungsmaßnahmen begründet: Das Gesundheitswesen soll vor Überlastung geschützt und funktionsfähig gehalten werden. Nach Auffassung des wissenschaftlichen Dienstes und auch nach Meinung vieler Rechtswissenschaftler wäre dies ein legitimes Ziel.

Die Omikron-Welle allerdings macht die Argumentation schwieriger. Denn einerseits können offenbar auch Geimpfte diese Virusvariante leichter übertragen, andererseits verursacht sie möglicherweise oft harmlosere Erkrankungen.

Verfassungsrechtler Stephan Rixen warf in einer Veranstaltung der Justizpressekonferenz in Karlsruhe kürzlich die Frage auf, wie groß die Gefahr für das Gesundheitswesen aktuell sei. Der Bayreuther Hochschullehrer, Mitglied des Ethikrats, hält eine "klare Auskunft" über die Gefährlichkeit dieser Virusvariante für wichtig, wenn es um die allgemeine Impfpflicht geht.

Geeignet, erforderlich, angemessen

Bei der Frage, ob eine Impfpflicht geeignet sei, das Ziel zu erreichen, sieht Rixen einen größeren Einschätzungsspielraum für den Gesetzgeber. Eine Maßnahme gilt dann als geeignet, wenn sie ihren Zweck erreichen oder zumindest fördern kann - hier müsste es also einen zumindest "hinreichenden Wirkungszusammenhang" zwischen Impfstoff und Ziel geben.

Ist die Impfpflicht denn erforderlich? Das wäre sie, wenn es kein milderes Mittel gäbe, um das Ziel zu erreichen. Kritiker argumentieren, dass der Schutz des Gesundheitswesens auch mit anderen Maßnahmen, also beispielsweise Masken- oder Testpflicht und Kontaktbeschränkungen, erreicht werden könnte. Fraglich ist allerdings, ob das stimmt und ob diese Maßnahmen die Allgemeinheit nicht insgesamt stärker belasten, zumal sie ebenfalls in Grundrechte eingreifen.

In seiner Entscheidung zur Bundesnotbremse im November hatte das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich nicht beanstandet, dass der Gesetzgeber beim damaligen Wissensstand mildere Mittel nicht als gleich wirksam angesehen habe.

Bei der Angemessenheit muss der Gesetzgeber Rechtsgüter gegeneinander abwägen: Geht es um einen so wichtigen Zweck, dass der Grundrechtseingriff gerechtfertigt ist? Wiegen die Vorteile also schwerer als die Nachteile? In der Notbremsen-Entscheidung hieß es, der Gesetzgeber habe davon ausgehen dürfen, dass den Grundrechtseingriffen "Gemeinwohlbelange von überragender Bedeutung" gegenüberstanden.

Praktische Umsetzung

Es gibt auch Hürden bei der Umsetzung oder "Durchsetzungsprobleme", wie Rixen ausführte. Wie hoch etwa solle das Bußgeld sein, wenn jemand sich nicht impfen ließe? Würden bestimmte Konsequenzen - wie beispielsweise Freiheitsentzug - ausgeschlossen? "Eine Impfpflicht ist nur so viel wert, wie sie am Ende auch umsetzbar ist", fasste der Rechtsprofessor zusammen.

Ohnehin ist absehbar, dass sich Gerichte mit einer Impfpflicht befassen werden müssen. Schon zur Impfpflicht in Gesundheitsberufen liegen zahlreiche Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe, ein Eilantrag wurde vergangene Woche abgelehnt.

 Eine Frau lässt sich bei einer Impfaktion gegen Covid-19 impfen. (Symbolfoto)

Eine Frau lässt sich bei einer Impfaktion gegen Covid-19 impfen. (Symbolfoto)

Foto: dpa/Moritz Frankenberg

Möglicherweise äußert sich das Bundesverfassungsgericht demnächst auch zu einer anderen Impfpflicht: zu der gegen Masern. Diese gilt nicht uneingeschränkt, ungeimpft dürfen Kinder allerdings keine Betreuungseinrichtung besuchen. Eilanträge dagegen hatte das Gericht vor knapp zwei Jahren abgewiesen.

(chal/AFP)
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