Analyse der Pandemie 15 Monate Corona – wo wir stehen und was wir hoffen dürfen

Analyse | Düsseldorf · Wann endet die Pandemie? Können Impfungen das Coronavirus wirklich bezwingen? Oder werden wir uns an ein Leben mit dem gefährlichen Erreger gewöhnen müssen? Die Wissenschaft ist optimistisch, trotz berechtigter Warnungen. Eine Analyse.

 Das Elektronenmikroskop zeigt Sars-CoV-2, das von einem Patienten isoliert wurde und aus der Oberfläche von im Labor kultivierten Zellen austritt.

Das Elektronenmikroskop zeigt Sars-CoV-2, das von einem Patienten isoliert wurde und aus der Oberfläche von im Labor kultivierten Zellen austritt.

Foto: dpa/Niaid-Rml

Noro? Klar, schon erlebt, aber erinnert sich jemand an Zika? War weit weg. Oder an Ebola? War auch weit weg, obwohl alle nervös waren. Oder Chikungunya? Ja, da war mal was, aber war es schlimm? Nein. Herpes? Ja, fies an den Lippen. Viele Kandidaten aus der Gruppe der Viren erscheinen uns entweder lästig oder exotisch. An HIV haben wir uns gewöhnt wie an eine langweilige chronische Infektionskrankheit. Hepatitis ist gefährlich, wirkt aber vertraut und beherrschbar (was es längst nicht ist).

Nun aber erleben wir, dass ein Virus um die Welt mutiert und dass die Menschheit zum ersten Mal seit langer Zeit eine Heimsuchung von unerhörtem Ausmaß erlebt. Dabei hat die globale Seuche – ein weiteres Merkmal neben der medizinischen Wucht – auch etliche Pandämonen menschlichen Verhaltens geweckt, als sei durch Sars-CoV-2 die Büchse der Pandora geöffnet worden. Viele Länder experimentieren herum, wie sie den Siegeszug des Virus stoppen. Manche sind geografisch begünstigt, andere nicht. Viele Staaten suchen noch heute nach einem Kurs und fahren weiterhin „auf Sicht“. Auch Deutschland wird von diesem Schlingerkurs geschüttelt, wobei viele angeblich bessere Modelle wieder ganz neue Kollateralschäden mit sich bringen.

Jedenfalls wird unser Land in den Geschichtsbüchern auch durch die öffentliche Selbstzerfleischung in Erinnerung bleiben, die über einen kritischen Diskurs weit hinausgeht. Man kann den Zorn verstehen, weil viele Menschen durch das Coronavirus in sämtlichen Existenzformen beeinträchtigt werden. Doch spüren wir auch, wie das endlose Lamentieren und Attackieren, wie die Schuldsprüche und Schuldumlenkungen den Charakter einer kollektiven Lähmung durch Dauer-Hysterie bewirkt haben. Wahrscheinlich wird die Erregung gar nicht abnehmen, wenn die Pandemie abgeebbt ist. Wird hierzulande verziehen werden? Und können und wollen Menschen überhaupt verzeihen, die gar nicht die Corona-Politik einer Regierung meinen, sondern das System als solches? Kommt es wenigstens zu einer Versöhnung? Vielleicht hat das Coronavirus Gifte freigesetzt, für die manche Leute gar kein Antiserum wünschen.  

Ein medizinisches Problem der unbedachten, uneinsichtigen, querulantischen, teilweise vorsätzlichen Weigerung, die bedrohliche Lage korrekt einzuschätzen und sich vorsichtig zu verhalten, liegt darin, dass sie den deutschen Krankenhäusern die ominöse Triage längst beschert hat. Die elegantere Formulierung lautet: Priorisierung. In etlichen Klinikbetten, die in normalen Zeiten für andere Menschen und Fälle gedacht sind, liegen weiterhin viele Covid-19-Patienten (die aktuell immer jünger werden, auch mit deutlich längerer Verweildauer). Doch für diese Patienten müssen andere Operationen vor allem im Bereich der künstlichen Gelenke, der Eingeweidebrüche (Hernien) und Gallenblasen-Entfernungen verschoben werden; das bedeutet für die Betroffenen: längere Schmerzen, fortdauernde Immobilität, größere Ungewissheit.

Diese Verschiebungen lassen sich in nackten Zahlen messen, doch hat die Pandemie weiterhin Aspekte des Unergründlichen. Zu den Geheimnissen zählt beispielsweise, dass sich fortwährend neue Menschen anstecken, obwohl uns gebetsmühlenartig eingetrichtert wurde, wie man sich schützt. Warum ist das so? Wie kann das sein? Es hat unter anderem mit dem Wahrnehmungsverlust jener Menschen zu tun, die allen Ernstes glauben, in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld „ist doch garantiert keiner positiv, da brauche ich doch keine Maske und keinen Abstand, da passiert doch nichts“. Andere infizieren sich, weil sie mit vielen Menschen auf engem Raum leben (müssen). Deshalb sind Impfungen in bestimmten Vierteln wichtig. Alle müssten wissen: Infiziert und potenziell infektiös ist man oft auch, wenn man (noch) nichts merkt.

Der Staat wurde früh gewarnt, was dieses Virus anrichten kann. Doch er agierte nach Witterung, nach Gefühl, mit falscher Souveränität, er versuchte, die Komfortzone möglichst lange geöffnet zu halten, buhlte um Gunst, weil Wahlkampf war und ist, und hoffte auf ein höheres, fast gütiges Einsehen des Virus – und darauf, dass der Kelch, wie so oft, an uns vorübergehen würde. Ebola blieb ja auch in Afrika, obwohl hierzulande schon alle Sonderisolierstationen aufnahmebereit waren.

Ein Virus ist aber nicht einsichtsfähig, es frisst sich durch und vervielfältigt sich, das ist sein unendlich banales und ebenso effektives Programm. Bei Corona hat sich Epidemiologie in voller Tragweite bewahrheitet: Das Virus kam und durchseuchte das Land, dass man dabei zuschauen konnte. Kontaktbeschränkungen blockierten es, gewiss. Der Sommer 2020 sorgte für trügerische Ruhe. Dann kam die zweite Welle, groß und finster, der Lockdown erfolgte zu spät, die Regierenden fürchteten Unruhe im Volk, das aber durch die mangelnde Entschlossenheit im Bund-Länder-Clinch erst recht irritiert war. Das war die Wurzel der Entzweiung. Über das anfängliche Impfdesaster sprechen wir jetzt lieber nicht. Und seitdem wir wissen, dass die britische Variante hierzulande durch die dritte Welle längst die Oberhand gewonnen hat, können wir sagen: Das Lehrbuch hatte in fast allen Punkten recht.

Jetzt gibt es jenseits des Impftempos drei Punkte, die wenigstens auf medizinischer Seite zu klären sind. Wie groß oder klein ist die Spanne bei den Impfstoffen zwischen „klinischer Immunität“ (jemand kann infiziert werden, erkrankt aber nicht schwer) und „steriler Immunität“ (jemand erkrankt nicht und kann auch niemand anderen infizieren)? Wie gefährlich sind Escape-Mutanten, wenn sie per Impfung nicht mehr zu erreichen sind? Und warum gewinnt die Medizin kein probates Mittel, Covid-19-Patienten besser zu behandeln?

Dass verlässliche Antworten derzeit schwer bis unmöglich sind, hat vor allem mit dem noch sehr kleinen Zeitfenster zu tun, in dem wissenschaftliche Draufsicht bisher möglich ist. Es mangelt an Daten, an Meta-Analysen, an kritischer Diskussion. Viele Antworten sind noch nicht verlässlich zu geben; wer das tut, begibt sich auf dünnstes Eis und liest im Kaffeesatz. Vermuten können wir vieles, wissen nur wenig. Aber das, was wir wissen, gibt Anlass zur Hoffnung.

Zum Beispiel wissen wir, dass die derzeit zugelassenen Schutzimpfungen durch mRNA- und Vektorimpfstoffe ihr Ziel erreichen: nämlich schwere Covid-19-Verläufe und Todesfälle zu verhindern. Natürlich kommen solche Fälle – jede Infektion trotz Impfung nennt man „Impfdurchbruch“ – trotzdem immer wieder vor und werden von legendenhungrigem Alarmismus hochgekocht. Aber die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Laut einem Bericht der US-amerikanischen Seuchenbehörde CDC liegt die Rate registrierter Impfdurchbrüche nach 66 Millionen geimpften Bürgern bei 0,008 Prozent. Oder schauen wir uns das nahe Österreich an: Dort ist bei lediglich 20 Personen trotz einer Vollimmunisierung per Impfung eine Covid-19-Erkrankung mit Symptomen aufgetreten; sechs Betroffene sind in der Folge verstorben, bei zwei weiteren wurde ein Krankenhausaufenthalt gemeldet. Diese Rate von 0,00236 Prozent der Gesamtzahl der vollständig Geimpften (längst mehr als 800.000 Einwohner) nennt der wöchentliche Nebenwirkungsbericht des Bundesamts für Sicherheit im Gesundheitswesen, der (wie in den USA) Sars-CoV-2-Infektionen ohne Symptome allerdings nicht mitzählt.

Ähnliche Daten kennen wir mittlerweile sehr zuverlässig aus Israel. Wer doppelt geimpft ist, der ist laut einer Studie, die in „The Lancet“ publiziert wurde, zu mehr als 95 Prozent sowohl vor einer Infektion mit Sars-CoV-2 geschützt als auch vor der Gefahr, mit einem schweren Verlauf ins Krankenhaus zu kommen oder zu sterben. Dieser Schutz gilt laut der Studie vor allem auch für ältere Menschen. Die Daten wurden zwischen Januar und Anfang April erhoben, als in Israel bereits die ansteckendere, zuerst in Großbritannien aufgetretene Corona-Variante B.1.1.7 in Umlauf war. Man kann also davon ausgehen, dass das Mittel von Biontech/Pfizer auch vor dieser Mutante schützt. Ob das bei Astrazeneca auch der Fall ist, weiß man noch nicht genau; man darf es aber vermuten.

Sind die Mutanten ein arges Problem? Vor allem die Varianten B.1.351 aus Südafrika und P.1 aus Brasilien und die indische Version könnten sich als komplexe Escape-Mutanten erweisen. Solche Gefängnisausbrecher potenzieren ihre Kräfte, wenn unter beginnender, aber noch nicht ausreichender Durchimpfung ein gewisser Selektionsdruck auf Erreger ausgeübt wird. Moderna ermittelt für den Herbst in einem Parallelverfahren dreier Teststränge den besten Booster-Impfstoff als Nachimpfung, der auch bei Mutanten wirkt. Laut Informationen der „Ärzte-Zeitung“ kristallisiert sich „der spezifisch auf die südafrikanische Mutante zugeschnittene Booster als Favorit“. Laut dem Unternehmen bewirken die beiden anderen Teststränge der Testphase eine Zunahme neutralisierender Antikörper gegen den ursprünglichen chinesischen Stamm wie auch die südafrikanische und die brasilianische Virusvariante; bei Probanden, die den besten Impfstoff, nämlich mRNA1273.351 bekamen, „ließen sich jedoch signifikant höhere mittlere Antikörpertiter gegen B.1.351 und P.1 nachweisen“. Das bedeutet: Schutzlos auch gegenüber gefährlicheren Varianten sind wir mitnichten. Wir sollten uns allerdings auf die Möglichkeit einstellen, dass auch nach doppelter Erstimmunisierung in absehbarer Zeit eine Nachimpfung, die auch die Mutanten sicher abdeckt, erforderlich sein wird.

Man sollte indes die vorschnelle Hoffnung fahren lassen, dass die Pandemie mit dem Sommer ihr Dasein einstellt. Das wird sie garantiert nicht. Aber sie könnte in ihrer tödlichen Brisanz entscheidend gemildert werden. Virologen sind sich sicher, dass die Impfungen – und das gilt ausdrücklich auch für das zu Unrecht verteufelte Vakzin von Astrazeneca – eine sogenannte „graue Immunität“ erzeugen. Das bedeutet: Ja, ein scharfer PCR-Test würde bei einem geimpften Infizierten noch Viren finden. Ob diese Menge aber ausreicht, dass der Geimpfte schwer erkrankt oder andere anstecken kann, ist eher unwahrscheinlich. Bis in dieser Frage durch statistische Verfahren eine solide Datenbasis erreicht sein wird, sollten sich die Menschen weiterhin der Hygiene- und Abstandsregeln erinnern, auch wenn das lästig, unromantisch und anti-emotional ist. Und zwar genau bis zu dem Moment, da auf breitestem Sockel geimpft wurde und gelegentliche Ansteckungen keine in die Fläche gehenden Infektionsketten nach sich ziehen können. Ob man dies nun Herdenimmunität nennt oder nicht, ist letztlich zweitrangig.

Diese Unwägbarkeiten erklären auch, wieso die verschiedenen Impfstoffe und deren Verwendungs- und Intervalloptionen derzeit wie Nussschalen auf dem Meer zu treiben scheinen. Auch hier mangelt es an belastbaren, die Breite der Altersgruppen abdeckenden Daten, was wann wie bei wem wirkt. Wer genaue Antworten per Stammtisch-Lautstärke einfordert, hat nicht die geringste Ahnung, wie Wissenschaft und Medikamentenprüfung funktionieren; er möchte es vermutlich auch nicht wissen. Alle Menschen wollen jetzt nur noch mRNA-Impfstoffe bekommen, dabei gibt es einige wenige Fälle von Hirnvenenthrombosen auch nach Biontech- und Moderna-Impfungen, allerdings ohne gleichzeitigen Thrombozyten-Mangel, der ein Kennzeichen von Astrazeneca zu sein scheint. Gleichwohl zählen gelegentliche Fälle von Hirnvenenthrombosen zum neurologischen Grundrauschen; jetzt liegen diese Fälle freilich unter der Lupe der Fachwelt.

Das Positive zu diesem Thema: Die Kausalkette und der Zusammenhang mit der Impfung sind bekannt, die therapeutischen Optionen ebenso. Man muss allerdings sagen, dass es Hirnvenenthrombosen auch als Komplikation einer Covid-19-Infektion gibt, dann aber neben anderen nicht minder schwerwiegenden Vorkommnissen wie Lungenversagen, Nierenschädigung und Gefäßentzündungen. Eine neue Studie, veröffentlicht in der Fachzeitschrift „Circulation Research“, zeigt noch einmal eindrucksvoll, wie das Sars-CoV-2-Virus beispielsweise das Gefäßsystem auf zellulärer Ebene schädigt und angreift. Als reines und tückisches Erkältungsvirus gilt es schon lange nicht mehr.

Auch wenn in den Kurven der Pandemie derzeit eine leichte Entspannung zu registrieren ist, müssen wir leider noch einmal auf unsere Intensivstationen schauen, wo die angebliche Entspannung noch nicht wirklich zu merken ist. Noch immer liegen dort viele schwere und schwerste Fälle, teilweise mit schlechter Prognose. Bemerkenswert ist, dass die Intensivteams landesweit wie in einem Chor rufen: Die schweren Fälle, das sind keine alten Leute mehr (die sind geimpft), sondern deutlich jüngere. Sie sind erstens Opfer einer Ermattung bei der Befolgung der AHA-Regeln und zweitens Opfer der britischen Variante, die in Deutschland längst vorherrscht.

Leider haben intensivpflichtige Covid-19-Patienten keine gute Option, denn noch immer gibt es nicht das eine, das überragende Medikament, das alle Probleme löst. Covid-19 ist in seinen ernsten Verläufen zudem eine schwere systemische Krankheit, die das Krankenhauspersonal massiv fordert. Ihr Erkennungszeichen ist zugleich, dass sie zwar Menschen mit Risikofaktoren (Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes, Rauchen) zuverlässig befällt, andererseits erstaunlich wenig System darin hat, wen sie nur zufällig streift und wen sie elementar vernichtet. Und wer nur harmlos berührt wird oder gar trotz Infektion asymptomatisch bleibt, kann keineswegs davon ausgehen, dass er nicht Wochen später an Long-Covid erkrankt, dieser berüchtigten Sars-CoV-2-Spätphase, die sozusagen das immunologische Störfeuer im Gedächtnis einer Corona-Infektion darstellt. Dieser sogenannte „Post-Covid-19-Zustand“ ist längst auch in der internationalen Klassifikation von Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation verzeichnet.

Die Zeichen stehen gut, dass die Impfungen das Leben wieder lebenswerter machen. Wenn erst Kinder geimpft werden können (und auch für sie genügend Impfstoffe zur Verfügung stehen), wird man sogar von einem Schutz vor schweren Verläufen und Tod sprechen dürfen, der wie ein Schild alle Generationen beschirmt. Weiterhin gilt ja die virologische Regel: Der erste Kontakt mit dem Virus ist der gefährlichste, vor allem wenn man älter ist. Wenn man ihn überstanden hat – sei es durch Infektion oder durch Impfung –, hat man das Schlimmste hinter sich. Verlassen wird uns das Virus nicht.

Und wie verhalten wir uns? Anderen Menschen sollten wir nicht misstrauen, aber wir sollten vorsichtig sein, sogar wenn sie oder wir geimpft sind. Vorsicht ist, wenn sie umfassend und kollektiv gilt, ein anderes Wort für Solidarität. Wenn uns in den kommenden Wochen die vielleicht letzte einträchtige Energieleistung gelingt, dann könnte es ein richtig schöner Spätsommer werden.

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