Ein trauriger Rekord Was die 100.000 Corona-Toten in Deutschland bedeuten

Analyse · Lange Zeit schien es, als würden die Deutschen einigermaßen glimpflich durch die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg kommen. Die vierte Welle hat diese Hoffnung zerstört, davon zeugen auch die nun 100.000 Corona-Toten. Doch es gibt auch Lichtblicke.

 Covid-19 ist besonders für Ältere und immungeschwächte Menschen gefährlich.

Covid-19 ist besonders für Ältere und immungeschwächte Menschen gefährlich.

Foto: dpa/Christophe Gateau

Es ist jedesmal ein trauriges Ereignis, wenn in der Corona-Pandemie Schallmauern durchbrochen werden. Seit März 2020 sind jetzt in Deutschland mehr als 100.000 Menschen durch oder mit dem Coronavirus gestorben. Das sind 100.000 zu viel. Eine Großstadt wie Moers oder Gütersloh wären danach auf einmal nicht mehr da. Und immer, wenn solche Zahlen genannt werden, erhebt sich die Frage, was vermeidbar und was Schicksal war und ist.

Weltweit hat Covid mehr als fünf Millionen Menschen das Leben gekostet, die Dunkelziffer nicht mitgerechnet. Das relativiert das Leiden der Patienten hierzulande nur auf dem Papier. Denn hinter jedem Toten verbirgt sich ein Schicksal, egal ob es sich um den ersten, die 431. oder jetzt der 100.000. handelt. Die Zahl ist ein Dokument des Scheiterns. Der Mensch ist nicht in der Lage, einem gefährlichen Virus wie Sars-Cov-2 ausreichend die Stirn zu bieten – trotz der hochentwickelten Bio- und Medizinwissenschaft. Das lehrt ein Stück Demut vor den Beschränkungen menschlichen Wissens und menschlicher Fähigkeiten.

Allerdings sind wir nicht wehrlos der Katastrophe ausgeliefert. Dank unseres Fortschritts sind wir in der Lage, einiges gegen die Verbreitung und Gefährlichkeit des Virus zu tun. Und wir können uns mit anderen Ländern vergleichen, ob sie oder wir besser mit der Pandemie zurechtkommen und was wir voneinander lernen können. Denn die geballte wissenschaftliche und ärztliche Erfahrung sowie die inzwischen angesammelte Expertise könnten besser zum Einsatz gebracht werden, als dies bisher geschieht.

Klar ist, dass ohne das medizinische Wunder der schnellen Impfstoffentwicklung die Zahlen höher liegen würden. Unternehmen wie Biontech, Moderna oder Astrazeneca haben mit ihren talentierten Mitarbeitern viele Menschenleben gerettet. Ihr unermüdlicher Einsatz hat sich gelohnt. Dass sie davon teilweise auch wirtschaftlich profitieren, ist mehr als billig und gerecht.

Und ja, auch die Politik hat zumindest anfangs beherzt auf die Herausforderung reagiert und mit demokratischen Maßnahmen das Schlimmste – eine Überlastung der Krankenhäuser und eine Auswahl der Ärzte, wer überleben darf und wer nicht – eindrucksvoll verhindert. Die hohen Todeszahlen im zweiten Corona-Winter haben uns alle geschockt, jetzt sind sie trotz der ansteckenderen Delta-Variante um über 80 Prozent bei den Über-70-Jährigen nach Zahlen des Robert-Koch-Instituts zurückgegangen. Das ist ein Erfolg, die Zahlen sind aber immer noch viel zu hoch. Über 300 Tote täglich sind eben auch Folge des stümperhaften Umgangs mit der Corona-Krise seit dem vergangenen Sommer. Damals dachten die meisten etwas voreilig, die Pandemie wäre endlich vorbei.

RKI-Chef Lothar Wieler hat es vor Kurzem noch einmal auf den Punkt gebracht. Wenn 50.000 Menschen sich täglich anstecken, wie es derzeit in Deutschland passiert, sterben im Schnitt 400 von ihnen, die Todesrate liegt bei geschätzten 0,8 Prozent der Infizierten. Die Menschen sind dann nicht mehr zu retten, so lautet das grausame Gesetz der Statistik. Und leider sind derzeit 42 Prozent der verstorbenen Über-60-Jährigen vollständig geimpft. Auch das gehört zur bitteren Wahrheit der Corona-Toten. In den vergangenen drei Wochen waren das 514 Menschen. Eine Zahl, die vermutlich größtenteils vermeidbar gewesen wäre, hätten sich alle impfen lassen.

Es stimmt, auch andere Krankheiten, selbst die alljährliche Grippe, fordern ihren harten Tribut an Menschenleben. Die Medizin ist immer ein verzweifelter Kampf gegen diese Leiden. Es ist noch nicht einmal geklärt, ob die Pandemie im vergangenen Jahr wirklich hat mehr Menschen in Deutschland sterben lassen, als nach Sterbeprognosen geschätzt wurden. Nach den Daten der OECD gab es in Deutschland tatsächlich eine Übersterblichkeit. Damit drücken Statistiker aus, dass eine Seuche zu mehr Toten als sonst üblich führt. Die Übersterblichkeit gilt unter Epidemiologen als härteste Währung, um die Gefährlichkeit einer Krankheitswelle zu ermitteln. Das Schicksal der Übersterblichkeit teilte Deutschland mit allen entwickelten Staaten. Die Lebenserwartung sank nach OECD-Daten hierzulande von 81,4 auf 81,1 Jahre, also um gut drei Monate. Das ist viel Lebenszeit, wenn man es mit der Zahl der Einwohner multipliziert. Schlechter als Deutschland schnitten die USA ab (minus 1,6 Jahre), aber auch Spanien (minus 1,5 Jahre) sowie Litauen und Polen (minus 1,3 Jahre). Bezogen auf die OECD lag Deutschland damit besser als der Schnitt von minus 0,6 Jahren. Andere Studien kamen sogar zu dem überraschenden Ergebnis, dass sich die Übersterblichkeit in Deutschland, anders als etwa in Schweden oder Spanien gar nicht verändert hat.

Auch wenn man die Zahl der Toten je 100.000 Einwohner misst, gehört Deutschland unter den entwickelten Volkswirtschaften zu den Ländern, die im Schnitt weniger Verstorbene beklagen müssen. Die letzte Ziffer liegt bei 120, in Osteuropa werden Zahlen von deutlich über 300 erreicht. Auch vergleichbare Länder wie die USA, Belgien, Italien, Schweden, Österreich oder die Schweiz liegen über unseren Werten. Aber es gibt auch Staaten, die besser abschneiden: die Niederlande, Israel, die übrigen skandinavischen Länder. Australien hat mit seiner No-Covid-Strategie acht Tote je 100.000 Einwohner zu beklagen, Südkorea kommt auf sechs, Neuseeland auf einen Verstorbenen. Im totalitären China gibt es seit der Eindämmung des ersten Ausbruchs praktisch keine Toten mehr, aber auch das demokratische Taiwan verzeichnet eine ähnliche Erfolgsrate.

Das alles zeigt, die Pandemie fordert uns, aber wir haben auch den Schlüssel zu ihrer Überwindung in der Hand. Dafür ist nochmal eine gemeinsame Kraftanstrengung nötig, eine Dynamik, die Ziel der neuen Ampel-Koalition sein sollte. Denn die Zahlen für Deutschland waren schon einmal besser. Das Land, dessen Wissenschaftssystem zu den fünf besten der Welt zählt, ist im Corona-Ranking gefallen. Das muss anders werden. Die Deutschen sind es ihren Toten schuldig.

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