Pharma-Firma will Opioid-Krise überwinden Ein Cannabis-Vollextrakt gegen Schmerzen
Düsseldorf/Gräfelfing · Das deutsche Biotech-Unternehmen Vertanical startet die weltgrößte Studie für ein Schmerzmittel auf Grundlage von Cannabis. Das ist nicht nur eine verbotene Droge, sonder kann legal vielleicht Millionen von chronischen Schmerzpatienten wieder Hoffnung machen.
Die Schmerzmittelforschung tritt seit Jahrzehnten auf der Stelle. Jetzt soll eine großangelegte Studie der in Gräfelfing bei München beheimateten Firma Vertanical chronisch belasteten Patienten wieder Hoffnung machen. Das bayerische Biotech-Unternehmen testet ab Mai in der klinischen Phase drei (die letzte vor dem Antrag auf Genehmigung) die Wirksamkeit eines Medikaments, das aus einem Vollextrakt aus speziell gezüchteten Cannabis-Pflanzen besteht. „Es wäre ein großer Durchbruch für eine bessere Schmerzbehandlung“, meint der Pharmazie-Professor Lothar Färber, der das Unternehmen berät. Vertanical-Gründer Clemens Fischer möchte mit dem neuen Wirkstoff die bisherigen Opioid-Schmerzmittel ablösen, die vor allem in den USA, aber auch in Europa und Deutschland wegen ihrer gefährlichen Nebenwirkungen und möglicher Abhängigkeiten ins Gerede gekommen sind. „Wir wollen damit die Opioid-Krise überwinden“, erklärt der Mediziner, der rund 100 Millionen Euro in diese Studie investiert.
Das neue Mittel soll vor allem bei unerträglichen Rückenschmerzen helfen. Rund 25 Millionen Menschen in Europa leiden daran und werden nach Angaben des Unternehmens nur unzureichend behandelt. Allein in Deutschland sollen nach einer medizinischen Studie 61 Prozent der Bevölkerung in den vergangenen zwölf Monaten Probleme mit dem Rücken gehabt haben. Die Krankenkasse AOK schätzt, dass durch Krankschreibungen wegen Rückenleiden, die zweithäufigste Ursache aller Meldungen, der Schaden für die Wirtschaft etwa 20 Milliarden Euro im Jahr beträgt.
Bislang stehen für chronische Schmerzpatienten als wirksames Gegenmittel nur Opioide zur Verfügung. Als Chroniker gelten Personen, die rund sieben Jahre lang ständig unter Schmerzen leiden und oft erhebliche Schlafstörungen haben. Opioide werden in Deutschland pro Jahr gut 20 Millionen Mal verschrieben, in Europa beträgt die Zahl der Verordnungen gut 100 Millionen. Als Nebenwirkungen dieses Schmerzmittels sind heftige Probleme mit dem Stuhlgang, Übelkeit und Schwindel, Schlaf- und Appetitlosigkeit sowie zum Teil tödliche Atemdepressionen bekannt. Zudem machen sie oft wie Betäubungsmittel physisch abhängig. Rund 7 bis 8000 der 1,3 Millionen gefährdeten Patienten sterben in Europa jährlich als Folge von Opioid-Einnahme. In den USA scheidet alle elf Minuten ein Mensch aus dem Leben, der das Schmerzmittel geschluckt hat.
Richtig verordnet sind Opioide noch immer das wirkungsstärkste Medikament gegen Schmerzen. Vertanical will diese Dominanz durch sein Cannabis-Produkt brechen. „Wir können den Schmerzustand der Menschen verringern und gleichzeitig Todesfälle verhindern sowie die Nebenwirkungen stark einschränken“, meint Firmengründer Fischer. Das Cannabis-Pflanzenprodukt von Vertanical ermöglicht nach Angaben des Unternehmens eine multimodale Schmerztherapie. Darunter versteht man eine Heilungsmethode, die das Problem von mehreren Seiten angeht. Der nun in die Studie gegebene Vollextrakt wurde aus 500 Genetiken entwickelt, die aus einer Auswahl von 1000 unterschiedlichen Cannabis-Pflanzen entnommen wurden. Dabei wird der schmerzlindernde Wirkstoff THC mit den chemischen Verbindungen der Terpene kombiniert, die Angstzustände auflösen können und antidepressiv wirken. „Das ist eine geniale Synthese“, lobt Fischer das eigene Produkt. Es soll insbesondere den durchgängigen nächtlichen Schlaf fördern, ein wichtiger Faktor in der Anti-Schmerz-Therapie. Einer möglichen Sucht, wie sie bei unkontrolliertem Cannabis-Konsum droht, beugt der Hersteller durch eine genaue Dosierung vor. „Das neue Medikament soll in Tröpfchen-Form eingenommen werden. Der Arzt schreibt die individuell zulässige Menge vor“, meint der gelernte Mediziner Fischer.
Die Studie soll in 100 Schmerzzentren in Deutschland und Österreich durchgeführt werden und insgesamt 800 Patienten umfassen. Die ersten Ergebnisse sollen im nächsten Jahr vorliegen. Vertanical-Gründer Fischer rechnet mit einer Zulassung des Medikaments spätestens Ende 2023. Zusätzlich ist eine Vergleichsstudie zum Einsatz mit Opioiden geplant, um die höhere Wirksamkeit und die geringeren Nebenwirkungen des Cannabis-Produkts nachzuweisen. Das wird Vertanical noch einmal 30 bis 40 Millionen Euro kosten. Das Unternehmen, das bereits heute Cannabis-Wirkstoffe gegen Schmerzen anbietet, beschäftigt 100 Mitarbeiter. In Dänemark betreibt es nach eigenen Angaben die größte medizinisch orientierte Cannabis-Plantage der Welt, in der 70 Personen arbeiten. Dabei werden die Pflanzen mit dem neuen Wirkstoff geklont, um die genetischen Eigenschaften zu bewahren.
Den weltweiten Markt für Schmerzmittel schätzt der Mediziner Fischer auf rund 20 Milliarden Euro, wenn man die Endprodukte in den Apotheken betrachtet. Allein in Deutschland dürften die Unternehmen, die Schmerzmittel auf der Grundlage der Opioide einsetzen, einen Umsatz von 1,1 Milliarden Euro erreichen. Diesen Markt will Vertanical mit eigenen Produkten durchdringen. In Augsburg soll dafür die größte Produktionsstätte entstehen. „Was Marburg für den Impfstoffhersteller Biontech ist, bedeutet Augsburg für uns“, umreißt Fischer die Ziele seines Unternehmens. Noch müssen sich allerdings die Patienten mindestens zwei Jahre gedulden, bis das neue Produkt auf den Markt kommt.
Wer heute das eigentlich verbotene Betäubungsmittel Cannabis auf Rezept erhalten will, muss dies nach einer Empfehlung durch den behandelnden Arzt bei den Kassenärztlichen Vereinigungen anmelden. Dort werden allerdings zwei Drittel der Anträge auf Kostenerstattung abgelehnt. „Wer heute eine Cannabis-Behandlung erhalten will, muss viel Geld bezahlen“, meint der beratende Pharmakologe Färber.