Misshandlungen und Medikamententests Betroffene berichten von Martyrium in NRW-Kinderheimen

Kempen/Viersen · Nicht nur Arzneimitteltests gehörten in deutschen Kinderheimen bis in die 70er-Jahre offenbar zum Alltag. Ein ehemaliges Heimkind und eine frühere Erzieherin berichten von unfassbaren Zuständen in Einrichtungen am Niederrhein.

 Claudia Stettner (Name geändert) erlebte schlimme Zeiten im Heim

Claudia Stettner (Name geändert) erlebte schlimme Zeiten im Heim

Foto: Franz-heinrich Busch

Die heute 75-Jährige arbeitete zwischen 1961 und 1963 in einem katholischen Kinderheim in Kempen. "Die Nonnen haben den Kindern, darunter auch einem Säugling, jeden Mittag um 12 Uhr Schlafmittel gegeben, damit sie in Ruhe Mittagessen konnten. Auch ich habe das gemacht", sagt Ernst, die damals ihre Ausbildung zur Erzieherin in dem Heim machte. "Und um 18 Uhr haben wir es dann noch einmal gemacht. Die Kinder hatten dadurch eine Wachzeit von nur sechs bis sieben Stunden am Tag", sagt Ernst. "Ich habe mir damals nichts dabei gedacht. Ich habe angenommen, das wird gemacht, damit man Personal einspart. Das war natürlich falsch von mir. Es tut mir leid", betont sie.

Marianne Ernst habe sich erst in dieser Woche wieder an ihre damalige Arbeit im Kinderheim zurückerinnert, nachdem sie in unserer Zeitung den Bericht über Medikamententests an Heimkindern gelesen hatte. Aufgedeckt hatte den Skandal die Pharmazeutin Sylvia Wagner. Sie hatte Archive und historische Fachzeitschriften ausgewertet und Belege für bundesweit etwa 50 Versuchsreihen gefunden. Demnach wurden zwischen 1950 und 1975 Impfstoffe, Psychopharmaka und Libido hemmende Präparate an Kindern getestet. Die Tests gab es unter anderem in Einrichtungen in Viersen-Süchteln und in Düsseldorf. Das ARD-Magazin Fakt und der WDR hatten zudem berichtet, dass auch ein Heim in Essen betroffen war.

Sadistisch veranlagte Schwestern

Was die Heimkinder auch noch Anfang der 1970er-Jahre erleiden mussten, daran kann sich Claudia Stettner* genau erinnern. Sie erlebte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Viersen-Süchteln ein Martyrium. Ihre Mutter war gestorben, als sie sieben Jahre alt war. Der Vater sprach dem Alkohol zu. "Ich wurde zunächst in einer Pflegefamilie untergebracht, war dort aufsässig", berichtet sie. "Meine Pflegeeltern verboten mir den Kontakt zu meinem leiblichen Vater." So kam sie in die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Süchteln. Erst als sie 13 Jahre alt war, erkannte ein neu in dem Heim angestellter Psychologe, dass sie zwar rebellisch war, aber keineswegs psychisch krank.

Die 52-Jährige berichtet von sadistisch veranlagten Schwestern: "Schlimm war es, wenn wir Hund spielen mussten. Alle Kinder mussten auf allen vieren durch den Raum robben, bis die Knie blutig waren. Zum Trinken bekamen wir Wasser in einen Napf geschüttet." Sie habe dagegen aufbegehrt, auch andere Kinder aufgefordert, das zu tun. "Ich habe gerufen: Steh auf, du bist kein Hund!" Die Folge: Isolierraum. "In dem Raum lag nur eine Matratze. Wer da reinkam, wurde nackt ausgezogen, mit Spritzen ruhig gestellt."

Körperliche Gewalt habe auf der Mädchenstation K1 zum Alltag gehört. "Wer sich nicht benahm, bekam einen schweren Schlüsselbund an den Kopf geworfen." Schmerzen der Kinder seien nicht ernst genommen worden. "Ich hatte starke Bauchschmerzen. Reagiert wurde erst, als mein Blinddarm durchgebrochen war." Immer wieder seien an Kindern Lumbalpunktionen durchgeführt worden. Sie dienen dem Nachweis von Hirnerkrankungen. Dabei wird in Höhe der Lende durch eine Hohlnadel Nervenwasser entnommen. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind Lumbalpunktionen nach heutigem Wissensstand nur selten nötig. In Süchteln habe das zum Alltag gehört, sagt Stettner. "Die Kinder wurden auf eine Kiste geschnallt, hatten nach dem Eingriff oft tagelang Kopfschmerzen."

Sie habe die Zeit auf der Mädchenstation nur überstanden, weil sie dort eine Freundin gefunden hatte. "Wir waren unzertrennlich, wie siamesische Zwillinge. Gegenseitig haben wir uns immer wieder Mut gemacht." Als der Psychologe feststellte, dass sie nicht in die Psychiatrie gehört, wollte sie zunächst nicht weg. "Ich konnte doch meine Freundin nicht im Stich lassen."

Nach der Zeit in Süchteln machte Stettner eine Ausbildung zur Erzieherin. "Ich wollte es besser machen." Sie bewarb sich in Süchteln. "Dass ich da mal in der Klinik war, habe ich nicht in meinen Lebenslauf geschrieben." Sie bekam den Job, arbeitete in einem heilpädagogischen Heim - und nahm selbst ein Pflegekind auf.

* Name und Alter geändert

(RP)
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