Ypern gedenkt täglich der Toten — seit 1928

In Flandern ist der Erste Weltkrieg bis heute gegenwärtig. Das Menen-Tor in Ypern ist eine besondere Erinnerungsstätte an das Grauen der Schlachtfelder. Jeden Abend findet hier eine eindrucksvolle Zeremonie für die Gefallenen statt – seit 1928.

In Flandern ist der Erste Weltkrieg bis heute gegenwärtig. Das Menen-Tor in Ypern ist eine besondere Erinnerungsstätte an das Grauen der Schlachtfelder. Jeden Abend findet hier eine eindrucksvolle Zeremonie für die Gefallenen statt — seit 1928.

Hunderte Menschen drängen sich um das Menen-Tor, ein mächtiges Ehrenmal im idyllischen flandrischen Städtchen Ypern nahe der Grenze zu Frankreich. Dudelsackklänge, Trompetensignale, Kommandorufe — die Zeremonie zum Gedenken an die im Ersten Weltkrieg in Flandern gefallenen 610000 Soldaten fand gestern zum 29496. Mal statt. Jeden Tag seit 1928 ist der Ablauf gleich, nur während der deutschen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg war die Zeremonie untersagt und wurde deshalb in England durchgeführt.

Auffällig viele Jugendliche versammeln sich unter dem Monument aus hellem Stein: Für britische Schulklassen ist der Besuch der Schlachtfelder in Belgien Pflicht. Fahnenabordnungen, Dudelsackpfeifer und Kranzträger marschieren auf, auch ein Darsteller in historischer Uniform mit Gewehr ist dabei. Und immer mehr Menschen strömen aus der Innenstadt hinzu, ein in Deutschland undenkbares Bild.

Kurz vor 20 Uhr wird das am 24. Juli 1927 eingeweihte Menen-Tor für den Verkehr gesperrt; Hornisten der örtlichen Feuerwehr nehmen beim achten Gongschlag Haltung an und spielen den Gefallenensalut "The Last Post" zu Ehren jener Soldaten des Commonwealth, die bei der Verteidigung der einstigen Tuchmacher-Stadt fielen.

Auf 160 Friedhöfen sind die Opfer der Flandern-Schlachten begraben, hier sollte nach dem "Schlieffen-Plan" der deutsche Durchstoß nach Frankreich erfolgen. Doch die Front erstarrte schnell. Der Name der Stadt steht auch für den ersten großen Chemiewaffeneinsatz der Geschichte: Am 22. April 1915 blies das XV. deutsche Armeekorps in Ypern 150 Tonnen Chlorgas auf die feindlichen Stellungen. Schwerer als Luft, senkte sich das Gas in die Schützengräben. 1200 bis 5000 Franzosen — über die genaue Zahl streiten die Historiker — erstickten qualvoll.

Die Landschaft um Ypern wirkt düster, leblos, ja regelrecht gespenstisch, als sei der Boden, den einst heranzischende Granaten zerwühlten, für immer eine Todeszone. Es ist nass und kalt, Nebel bedeckt die Äcker. Den Besucher schaudert, auch nach einem Jahrhundert noch.

Ypern wurde im Ersten Weltkrieg fast völlig zerstört. Wo jetzt das Mahnmal steht, marschierten einst die alliierten Soldaten ins Gefecht. 54896 Briten, Australier, Kanadier, Südafrikaner und Inder werden bis heute vermisst. Ihre Namen sind im Torbogen hinter der ewigen Flamme in langen Reihen zu lesen — für ihre Nachfahren der zentrale Ort der Trauer statt einer Grabstätte.

Als die Gedenkfeier unterm Menen-Tor beginnt, erstirbt das englische, französische und flämische Gemurmel, nur die Tritte der Marschformationen und ihr Echo unter dem großen Torbogen sind zu hören. Der Schrecken von damals ist wieder da, erfasst jeden, der auf dem grauen Kopfsteinpflaster steht.

Die allgemeine Betroffenheit ist zwar deutlich spürbar, doch Deutschland ist erfreulicherweise kein Feindbild mehr: Als ein Bundeswehr-Offizier mit belgi-schen Fallschirmjägern einen Kranz niederlegt, umarmt ihn ein belgischer Zivilist und zeigt sich über die Teilnahme eines Deutschen in Uniform als Zeichen der Versöhnung über den Gräbern derart gerührt, dass er dem Soldaten sogar zweimal dankbar die Hand küsst — ebenfalls eine in Deutschland nicht vorstellbare Szene.

In Flandern ist der Erste Weltkrieg bis heute allgegenwärtig: 500000 Besucher werden pro Jahr gezählt, zum 100. Jahrestag werden es noch viele mehr werden. Ob Museum, Gaststätte oder Souvenir-Shop, Ypern lebt von den Besuchern der Schlachtfelder. Busse fahren Touristen zu den früheren Frontlinien, allein 120000 Menschen kommen jährlich auf den deutschen Friedhof von Langemark, nur wenige Kilometer von Ypern entfernt. Um die im Morgendunst bedrückend wirkende Anlage mit 44 000 Gräbern rankt sich der falsche "Heldenmythos" kriegsfreiwilliger Abiturienten und Studenten. Sie sollen, das Deutschlandlied auf den Lippen, hier tapfer in den Tod marschiert sein. 90 Prozent der Besucher sind Briten — wie zur Bestätigung rollt ein Bus mit der Aufschrift "Battlefield-Tours" ("Schlachtfeld-Reisen") auf den Parkplatz.

In der Umgebung führen Touren zu weiteren historischen Plätzen wie den Sprengkratern von Menen oder den Todeszellen in Poperinge, in denen verurteilte britische Deserteure vor ihrer Hinrichtung eingekerkert waren. Einen Eindruck von den Schützengräben vermittelt die deutsche Stellung "Bayernwald" bei Wijtschate, die kürzlich freigelegt wurde.

Das Yperner Museum "In Flanders Fields" ("Auf den Feldern Flanderns") versucht dagegen mit moderner Technik, das Grauen der Schlachten näherzubringen: Rauchschwaden, die Gas symbolisieren, wabern durch den Raum, die Beleuchtung von Glasvitrinen mit Stacheldraht und Munitionsresten im Fußboden flackert bedrohlich, aus dem Off sind die Hilferufe Verwundeter zu hören.

Im Foyer des Hotels an der Sint-Jacobs-Straat ist an der Wand in großen Buchstaben das Gedicht "In Flanders Fields" zu lesen, auf das sich der Name des Museums bezieht. Die Zeilen wurden 1915 von einem kanadischen Oberstleutnant verfasst, dessen Freund im Gaskrieg bei Ypern starb, und beschreiben den blühenden Klatschmohn (Poppies), der ihn an das vergossene Blut erinnert. Etliche Besucher tragen rote Stoff-Poppies an der Kleidung, auch dem deutschen Gast wird ein Anstecker überreicht — in Großbritannien und Belgien sind die Mohnblumen von Flandern ein bekanntes Symbol dafür, dass die Kriegsopfer niemals in Vergessenheit geraten dürfen.

(RP)
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