Wellenreiter Kelly Slater Der alte Mann und das Mehr

Der Wellenreiter Kelly Slater gewann elf WM-Titel, war mit Pamela Anderson zusammen und steckte 30 Millionen Dollar in die perfekte Welle. Zum 50. Geburtstag hat er sich nun selbst einen Turniersieg geschenkt. Jetzt lautet die Frage: Rücktritt oder Jagd auf Titel Nummer zwölf?

 Kelly Slater 2017 beim Ritt der Welle „Cloudbreak“ auf den Fidschi-Inseln.

Kelly Slater 2017 beim Ritt der Welle „Cloudbreak“ auf den Fidschi-Inseln.

Foto: dpa/Kelly Cestari

Applaus ist das Brot des Künstlers, aber an diesem einen Tag vor wenigen Jahren hätte es Kelly Slater bevorzugt, wenn die rund hundert Menschen auf der Kaimauer von Hossegor an Frankreichs Atlantikküste anstelle seines Namens einen Notarzt gerufen hätten. Die Situation hätte eindeutiger nicht sein können: Statt lässig bis direkt auf den Sand zu surfen, hatte er sich, krampfhaft an sein Brett geklammert, halb besinnungslos von der Brandung an den Strand schieben lassen, wo ihn weitere Wellen überspülten. Doch niemand realisierte, dass er kaum eine Minute zuvor um ein Haar ertrunken wäre. Vielleicht wollte es auch keiner sehen: Slater war und ist das Gesicht einer gesamten Sportart, eine lebende Legende. Mit Betonung auf lebend.

So gesehen wäre Slaters vielzitierte „Unsterblichkeit“ nicht bloß eine journalistisch-sporthistorische Ehrerbietung, sondern eine Art Fluch. Slater ist mehr Marke als Mensch; er dürfte schlicht nicht sterben. Zumindest nicht, bevor jeder sein Foto geknipst hat. Aber das Sterben wäre schon mit seinem Ehrgeiz nicht vereinbar: Wer tot ist, kann keine Surfwettbewerbe mehr gewinnen.

 Slater (rechts) nach seinem Rekord-Sieg am Samstag mit dem Unterlegenen Setz Moniz.

Slater (rechts) nach seinem Rekord-Sieg am Samstag mit dem Unterlegenen Setz Moniz.

Foto: AP/Brent Bielmann

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Und das ist Slaters Ziel. Noch immer. Erst vergangenes Wochenende hat er es wieder geschafft, in der legendären Welle „Pipeline“ auf Hawaii, nur wenige Tage vor seinem 50. Geburtstag. Die Surf-Welt überschlug sich. Der zweite Setz Moniz trug ihn auf den Schultern zur Bühne. Jetzt steht Slater vor einer schwierigen Entscheidung: Aufhören, wenn es am schönsten ist, also jetzt sofort – oder gegen jede Wahrscheinlichkeit den zwölften WM-Titel jagen?

Das erste Mal hatte Slater 1992 Sporthistorisches erreicht, als jüngster Weltmeister im Wellenreiten aller Zeiten. 1994 folgte der zweite Titel, 1995 der dritte insgesamt, 1996 der dritte in Serie. Er widmete ihm seinem Freund Donnie Solomon, der in jenem Jahr nur wenige Meter und Sekunden entfernt von Slater ertrunken war. 1997 gewann er Nummer fünf, gewidmet seinem ertrunkenen Freund Todd Chesser – und brach damit den damaligen Rekord des Australiers Mark Richards. Der sagte: „Egal, wen ihr dafür haltet - ob Michael Jordan oder Muhammad Ali - der beste Sportler aller Zeiten ist zweifellos Kelly Slater.“

 Außer sich vor Glück: Slater nach seinem Geschenk an sich selbst zum 50. Geburtstag.

Außer sich vor Glück: Slater nach seinem Geschenk an sich selbst zum 50. Geburtstag.

Foto: AP/Brady Lawrence

Man mag das für Übertreibung halten, für die Überkompensation des Besiegten, der den Sieger in den Himmel lobt, um weniger schlecht dazustehen.

Fakt aber ist: Im Wellenreiten gewinnt kaum jemand auch nur zwei oder gar drei Turniere hintereinander, weil das Spielfeld zugleich auch der größte und eigentliche Gegner ist. Und dieses Spielfeld ist dauernd in Bewegung, in allen drei Dimensionen. Jedes Stückchen Ozean ist anders, abhängig von Strömung und Wind, Wasser- und Lufttemperatur, dem Salzgehalt des Meeres und der Struktur des Untergrunds. Mehr noch: Jede einzelne Welle ist einmalig. In Sekunden können sich gleich mehrere der Variablen ändern, die bestimmen, wie hoch sie sich wo auftürmt, wann, wie schnell und in welchem Winkel sie bricht. Denn die Welle selbst bewegt sich rasant vorwärts in Richtung Ufer. Wo sich welches Loch im Korallenriff befindet, entscheidet darüber, welches Manöver auf der Welle wann möglich ist – und schlimmstenfalls über Leben und Tod. Die Bühne kann auch zum Sarg werden.

All das sprach gegen eine konstante Dominanz von Kelly Slater, von seiner Herkunft ganz zu schweigen: Als Sohn eines armen Alkoholikers wuchs er im Kaff Cocoa Beach in Florida auf, mit Stränden wie aus dem Bilderbuch, aber miserablen, winzigen Wellen.

All das überwand er mit einem angeborenen, nahezu übernatürlichen Gefühl für das Wasser, kombiniert mit zwanghaftem Trainingseifer und rigider Taktik, guten Förderern und dem nötigen Glück. Das wohl entscheidende Element aber ist, was der vorherige Rekordweltmeister Mark Richards Slaters „tödlichen Ehrgeiz eines weißen Hais“ nennt. Nun sind Haie weniger für ihren Ehrgeiz bekannt und mehr für ihren Blutrausch, aber Letzteren kann man Menschen kaum andichten, schon gar nicht als Kompliment und erst recht nicht in einer Disziplin, die zwar nicht häufig, aber doch regelmäßig Sportler durch Hai-Attacken verliert.

 Slater während des Wettkampfs am vergangenen Wochenende.

Slater während des Wettkampfs am vergangenen Wochenende.

Foto: AP/Tony Heff

Mit alledem und purem Willen jedenfalls errang Slater am 19. Dezember 1998 den fünften WM-Titel im Wellenreiten in Serie, seinen sechsten überhaupt. Der Junge aus zerrüttetem Elternhaus war im Alter von nur 26 Jahren der beste Wellenreiter aller Zeiten, der König der Funsport-Welt, Multimillionär sowieso, und spürte: nichts.

Es folgten eine Sinnkrise und eine dreijährige Frührente, ein Comeback 2002 und schließlich fünf weitere WM-Titel. Der Mann, der aussieht wie eine Mischung aus Meister Proper und seiner eigenen Bronzestatue, ist der Goldstandard fürs Wellenreiten. Seine elf WM-Titel sind einsamer Rekord. Mehr noch: Der an Drogen jung verstorbene Andy Irons galt zu Lebzeiten nicht zuletzt deshalb als Genie, weil er seine drei Titel in Folge im direkten Duell gegen Slater in Hochform gewonnen hatte, was sie sozusagen doppelt wertvoll macht.

Doch Slater will mehr. Der Mann, der am 11. Februar 50 Jahre alt wird, nimmt auch in diesem Jahr wieder an der jährlichen World Surfing League (WSL) teil, deren Gewinner sich Weltmeister nennen darf. Und klar ist: Er tut es nicht wegen der netten Gesellschaft, des Geldes oder des Ruhms. Von alledem hatte und hat er buchstäblich mehr als genug.

Seine Gesellschaft umfasst neben seiner Verlobten, ungezählten Surfern und Musikern auch die Ex-Freundinnen Pamela Anderson, Gisele Bündchen und Cameron Diaz. Sein Vermögen von geschätzten 22 Millionen Dollar stammt aus Preisgeldern, Sponsorenverträgen, Model-Gagen, Auftritten in ungezählten Surffilmen und dutzenden Folgen der Serie „Baywatch“, Tantiemen für das Videospiel „Kelly Slater’s Pro Surfer“ sowie seiner brandneuen Castingshow „The Ultimate Surfer“. Zudem betreibt er eine Modemarke, die nachhaltige Kleidung aus alten Fischernetzen herstellt, engagiert sich für Suizidprävention und Umweltschutz und kümmert sich um seine Tochter, die das Ergebnis einer Affäre war und heute 25 Jahre alt ist. Langeweile hat er nicht.

Der Preis des Ruhms wiederum ist neben Slaters jahrzehntelanger Einsamkeit („Der Ozean ist meine Zuflucht“, schrieb er in seiner Autobiografie) der eingangs erwähnte Vorfall in Frankreich: „Vom Aufprall auf der Welle wurde ich bewusstlos; als ich wieder zu mir kam, war ich unter Wasser und wusste nicht, wo oben und unten ist“, erzählte er dem Journalisten Graham Bensinger. Wie in Trance sei er auf gut Glück irgendwohin gepaddelt, während sich sein Fokus und Sichtfeld verengten. Mit viel Glück sei er schließlich an die Oberfläche gelangt, habe vor allem Wellenschaum eingeatmet, aber auch so gerade genug Luft bekommen, um das Brechen der nächsten Welle zu überleben. „Ich stand total unter Schock, war aber zum Glück nah am Strand, wohin mich die nächsten Wellen dann endgültig stießen.“

Dort versuchte er den Gedanken zu verarbeiten, dass er gerade denkbar knapp dem Berufsrisiko schlechthin entronnen war, das über die Jahrzehnte schon viele Konkurrenten, Kollegen und auch echte Freunde ereilt hatte. Der große Kelly Slater wollte bloß ein wenig Ruhe. Das war zu viel verlangt. „Da saßen hundert Franzosen auf einer Kaimauer, riefen meinen Namen und knipsten Fotos. Es war bizarr.“

 Kelly Slater.

Kelly Slater.

Foto: Dan Himbrechts/AAP/dpa/Dan Himbrechts

Diesen Gefahren entgeht, wer auf der perfekten Welle surft. Die lockt nach einem Jahrzehnt Entwicklungszeit knapp 200 Kilometer vom Meer entfernt, in einem ehemaligen Wasserski-Park im kalifornischen Wüstenörtchen Lemoore. Die Welle wird künstlich erzeugt durch einen 100 Tonnen schweren Pflug mit 400 PS. Und sie ist maßgefertigt, exakt nach den Wünschen des Kunden. Ein Ritt in dem 700 Meter langen Betonkanal dauert etwa 50 Sekunden, danach brauchen die 50 Millionen Liter Wasser drei Minuten, um sich zu beruhigen. Anschließend kann man dieselbe Welle noch einmal reiten, bis ans Ende aller Tage. Kosten: etwa 30 Millionen Dollar. Ideengeber, Mitentwickler und Betreiber der „Surf Ranch“: Kelly Slater.

2016 kaufte sich der Weltverband WSL in die Anlage ein; inzwischen finden dort Turniere statt. Ein Schelm, wer Befangenheit wittert, wenn deren PR-Leute vor Saisonbeginn versicherten, Slater wirke derzeit „fitter und fokussierter als jemals zuvor“. Dass sein zwölfter WM-Titel, „das Bilderbuch-Ende einer bereits historischen Karriere“, absolut machbar sei. Slaters Sieg im ersten Turnier dieser Saison kommt da natürlich gerade recht.

Alles in allem ist die Wahrscheinlichkeit dennoch gering: Slaters letzter WM-Titel liegt bald elf Jahre zurück, vor dem Triumph am vergangenen Wochenende hatte er sein letztes Turnier 2016 gewonnen. Einerseits. Andererseits errang er noch 2019 die prestigeträchtige „Triple Crown“ für den besten Punktesammler der drei Turniere auf Hawaii und beendete die Saison als achtbester Surfer der Welt. Vergangenes Jahr hätte er es um ein Haar in den Zwei-Mann-Kader der USA für das erste olympische Wellenreiten geschafft.

Ersatzweise soll nun eben der zwölfte WM-Titel her. Und vieles deutet darauf hin, dass er es veruschen kann, will, muss. Obwohl er fast nur verlieren kann.

Wie schrieb Erich Fried?

„Es ist lächerlich, sagt der Stolz.

Es ist leichtsinnig, sagt die Vorsicht.

Es ist unmöglich, sagt die Erfahrung.

Es ist was es ist, sagt die Liebe.“

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