70 Jahre Auschwitz-Befreiung Von der Rampe zur Gaskammer auf der Spur der Opfer

Auschwitz · Über Konzentrationslager kann man nicht bloß reden, man muss sie besuchen. Schon heute kann jeder Fünfte Deutsche unter 30 nichts mit dem Begriff Auschwitz anfangen. Das muss sich ändern.

 Eine Besuchergruppe in Auschwitz.

Eine Besuchergruppe in Auschwitz.

Foto: ap, AK

Immer wieder heißt es: "Ihr dürft nicht vergessen!" Deshalb hat man uns im Geschichtsunterricht als Beweis für den Holocaust Bilder von gestapelten Leichen gezeigt. Deshalb mussten wir unendlich viele Romane lesen, in denen irgendein Nachfahre auf dem Dachboden ein Tagebuch findet, und dann wird die Geschichte von seinem Opa erzählt. Deshalb hat man uns "Schindlers Liste" schauen lassen — einen Spielfilm, der vom Schöpfer von "E.T." und "Indiana Jones" erzählt wird, und nicht von der Bundeszentrale für politische Bildung. Wir sollten möglichst anschaulich erfahren, dass das Böse im Menschen sitzt und jederzeit herauskommen kann. Dass es keinen zweiten Genozid in Deutschland geben darf. Und dann kommt er wieder — dieser Satz, der so unendlich wahr ist. Aber irgendwie auch so unendlich unbestimmt: "Ihr dürft nicht vergessen!"

Schon heute kann jeder Fünfte Deutsche unter 30 Jahren nichts mit dem Begriff Auschwitz anfangen, wie eine Umfrage des Forsa-Instituts aus dem Jahr 2012 ergab. Ja, mit Auschwitz — dem größten deutschen Konzentrationslager 60 Kilometer westlich von Krakau, in dem 1,1 Millionen Menschen von deutscher Hand mit Gas ermordet worden sind. In ein paar Jahren wird es keine Zeitzeugen mehr geben, die uns von diesem Tod in Permanenz berichten können. Keine Großeltern, die vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden. Die Zahl der Migrantenkinder, deren Vorfahren keine Deutschen waren, wird zudem steigen. Und plötzlich ist er wieder da, dieser Satz: "Ihr dürft nicht vergessen!"

Ja, manche Dinge liegen auf der Hand: Rassengesetze, die Reichspogromnacht und Probevergasungen von Kranken und Schwangeren zum Beispiel. Dass Adolf Hitler an Parkinson litt. Und dass Zyklon B in die Dachöffnungen der Gaskammern gegeben worden ist — ein Mittel, mit dem man eigentlich Kakerlaken beseitigen sollte.

Aber wer aus der jungen Generation weiß schon, dass die SS-Männer den Leuten vor dem Gang in die Gaskammer erzählt haben, sie würden duschen? Dass nummerierte Kleiderhaken an den Wänden der vermeintlichen Umkleiden angebracht wurden, damit die KZ-Insassen dachten, sie würden zurückkommen und ihr Hab und Gut wieder mitnehmen? Dass im Ghetto von Lodz 164.000 Juden auf vier Quadratkilometern zusammengepfercht waren? Dass die Nazis eine Woche vor der Auschwitz-Befreiung am 27. Januar 1945 alle Krematorien in Birkenau in die Luft gesprengt haben, um ihre Spur des Grauens zu vernichten? Dass es seit dem Jahr 2000 keinen einzigen Juden mehr in Auschwitz gibt? Dass sich die Ofenhersteller mit den KZ-Organisatoren abstimmten, um alles so zu gestalten, dass sie möglichst viele Menschen vergasen konnten? Bis zu 4700 Männer, Frauen und Kinder pro Tag?

Natürlich kennen viele die Fakten, weil das Thema Nationalsozialismus fest in den Lehrplänen verankert ist. Oder weil man noch (Ur-)Großeltern hat, die über ihre schreckliche Zeit berichten. Weil man Geschichte studiert hat oder einfach gerne Dokumentationen schaut. Aber viel zu wenig junge Menschen, viel zu wenige Schüler, besuchen die Erinnerungsorte — etwa mit der Stiftung "Erinnern ermöglichen", die 2010 gegründet wurde, um jedem Schüler aus NRW eine Reise nach Auschwitz zu ermöglichen. 14.000 Jugendliche sind bislang mit der Initiative nach Polen gefahren. Rund 50 Schüler waren es in dieser Woche, begleitet von NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne).

Das ist gut so. Denn über Konzentrationslager wie Auschwitz kann man nicht einfach bloß reden. Es reicht nicht aus, sich die immer gleiche Bildersuppe mit Baracken, Stacheldraht und Verbrennungsöfen im Farbfernsehen anzugucken. Man muss sich diesen Unmöglichkeiten, die das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte markieren, aussetzen, muss sie fühlen, an sich heranlassen können. Man muss die 500 Schritte in Birkenau, die die Häftlinge damals von der "Rampe" bis in die Gaskammer laufen mussten, zumindest einmal in seinem Leben zurückgelegt haben. Bei minus vier Grad. Und sich dann vorstellen, wie es gewesen sein muss, diesen langen letzten Weg quasi nackt gegangen zu sein. Getrennt von seiner Familie, seinen Kindern. Deshalb rufe ich meine Generation, rufe ich alle, die es noch nicht getan haben, auf: Lasst Geschichte lebendig werden und werdet Zweit-Zeugen!

Denn so wie einmal aus ganz Europa die Menschen nach Auschwitz, Dachau oder Sachsenhausen in den Tod fuhren, so muss die Botschaft von der unverletzbaren Würde der Menschen auch künftig in die Welt hinausgetragen werden. Der Tod darf nicht das letzte Wort haben.

Wir müssen nicht alles über die Geschichte unserer Vorfahren wissen. Aber wir dürfen sie nicht vergessen. Niemals.

(jam)
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