US-Radiomoderator löst landesweite Debatte aus Tweets vom Sterbebett bewegen USA
Washington · "Die Herzfrequenz fällt. Mir bricht das Herz." Mit Sätzen wie diesen hat US-Radiomoderator Scott Simon in den vergangenen Tagen seine zahlreichen Twitter-Follower in der ganzen Welt in Atem gehalten. Der Journalist berichtete in dem Kurzbotschaftendienst live vom Sterbebett seiner 84 Jahre alten Mutter. Darf man das?
Der 61-Jährige ist als Moderator einer Sendung im Radiosender NPR landesweit bekannt. Mehr als 1,2 Millionen Menschen verfolgen seine Kurzbotschaften, die er auf Twitter unter dem Benutzernamen @nprscottsimon verbreitet. Als es seiner Mutter immer schlechter ging, entschied sich Simon, ihre letzten Tage und seine eigenen Emotionen in den maximal 140 Zeichen langen Twitter-Botschaften zu dokumentieren.
Heart rate dropping. Heart dropping.
"Die Himmel über Chicago haben sich geöffnet, und Patricia Lyons Simon Newman hat die Bühne betreten", schrieb er, als seine Mutter schließlich starb. "Sie wird den Himmel so hell erstrahlen lassen, dass sich die ganze Welt in die Nacht verlieben wird."
Am nächsten Morgen dann setzt bei Simon die Trauer ein: "Du wachst auf und stellst fest: Du hat nicht geträumt. Es ist passiert. Du weinst, wie du es letzte Nacht nicht konntest." Auch das schwierige Überbringen der Todesnachricht beschrieb er auf Twitter: "Das Schlimmste: es unseren Töchtern zu erzählen. Die Älteste gab sich hart, die jüngste schluchzte. Ratet mal, welche von beiden aber bis tief in die Nacht geweint hat."
The loveli cityscape at the foot of my mother's bed: pic.twitter.com/Bu7AIfLaMs
Die Reaktionen auf die öffentliche Trauer fielen höchst unterschiedlich aus. "Ich denke, was Scott Simon getan hat, war wunderbar und sehr persönlich", schrieb ein Leser auf der Webseite der "Washington Post". Auf der Webseite der "Los Angeles Times" urteilte ein Nutzer hingegen, Simons Vorgehen sei "makaber und respektlos". Es gehe dem Moderator nicht um seine Mutter - "es geht nur um ihn".
Diese emotionalen Reaktionen sind nach Ansicht der Soziologin Elizabeth Luth von der Rutgers-Universität in New Jersey wenig überraschend. Es gehe schließlich um die Beziehung der Menschen zum eigenen Tod und zum Tod von Angehörigen, sagt sie.
Allgemein wird das Sterben in den USA als äußerst private Angelegenheit angesehen. "Es ist unser letztes Tabu", sagt der Kulturhistoriker Lawrence Samuel. Der Tod, noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine sehr öffentliche Angelegenheit, stehe im Gegensatz zu vielen aktuellen Werten der USA wie etwa Jugend, Fortschritt und Leistung. In diesem Sinne sei der Tod "sehr unamerikanisch", meint Samuel, Autor eines kürzlich erschienenen Buchs über den Umgang seines Landes mit dem Sterben.
Scott Simons Mitteilungen zeigten zugleich, wie sehr das Internet die Trauerkultur in den USA verändere, sagt der Historiker. Es gebe inzwischen Gedenk-Webseiten und Videoübertragungen von Beerdigungen für weit entfernt lebende Verwandte.
Samuels Ansicht nach wird der Tod in den kommenden Jahrzehnten auch aus einem sehr simplen Grund stärker in den Mittelpunkt der Gesellschaft rücken: Die Generation der Babyboomer, der geburtenstarken Jahrgänge nach dem Zweiten Weltkrieg, wird alt. Auch Scott Simon zählt dazu. Seine Erfahrung der vergangenen Tage ist typisch für seine Altergenossen: Die Eltern der Babyboomer sterben jetzt. Bald sind sie selbst an der Reihe.
City is cool, bright, & lovely this morning. My mother touches a splash of sunlight w/ her fingers. "Hello, Chicago!"
Der Live-Bericht des 61-Jährigen vom Totenbett seiner 84-jährigen Mutter wirkt nach, auch für ihn privat. "Jemand, den ich nie leiden konnte, hat mir eine so nette Nachricht zu meiner Mutter geschickt, dass ich vergessen habe, warum ich ihn nicht mag", schrieb er auf Twitter.