Estonia-Unglück Tauchgang zur Wahrheit?

Stockholm · Der Untergang der Fähre „Estonia“ im Jahre 1994 ist ein schwedisches Trauma – der vielen Toten und der ungeklärten Umstände wegen. Jetzt könnte Licht ins Dunkel gebracht werden.

 Die Fähre Estonia der Reederei Estline (undatiertes Archivfoto), die am am 28. September 1994 um 00.23 Uhr SOS sendete und in weniger als einer halben Stunde sank.

Die Fähre Estonia der Reederei Estline (undatiertes Archivfoto), die am am 28. September 1994 um 00.23 Uhr SOS sendete und in weniger als einer halben Stunde sank.

Foto: dpa/-

Vor etwas über einem Vierteljahrhundert lief die Fähre „Estonia“ auf Grund. Hunderte Menschen starben, doch auf konkrete Ermittlungsergebnisse warten die Hinterbliebenen vergeblich. Nun darf das Wrack ab Juli untersucht werden, die schwedische Havarie-Kommission wird zusammen mit finnischen und estnischen Behörden Tauchgänge zu dem Schiff leiten, das auf dem 80 Meter tiefen Grund der Ostsee liegt; ein digitales Modell der „Estonia“ soll danach erstellt werden.

Ausschlaggebend war der Discovery-Dokumentarfilm „Estonia – der Fund der alles verändert“, der zum 26. Jahrestag des Unglücks am 28. September vergangenen Jahres ausgestrahlt wurde. Unterwasseraufnahmen wiesen auf ein vier Meter hohes und über ein Meter breites Loch, das im Untersuchungsbericht von 1997 nicht erwähnt wurde, sowie auf ein kleineres Loch. „Wie entstanden sie, wann entstanden sie? Entstanden sie nach oder vor dem Sinkvorgang?“, so Jonas Bäckstrand. Dies seien, so der Chef der schwedischen Havarie-Kommission, die wichtigsten Fragen, die der Tauchgang klären sollte.

Der Untergang der Fähre gilt als die größte Katastrophe der zivilen Schifffahrt in Europa nach 1945 – die Fähre von Tallin nach Stockholm sank in einer stürmischen Nacht am 28. September 1994 innerhalb von einer halben Stunde. Nur 137 Personen überlebten in dem kalten Wasser, 852 Tote sind zu beklagen, vor allem Schweden.

Der Untersuchungsbericht von 1997, an dem auch Estland und Finnland beteiligt waren, weist auf einen Schaden der Bugklappe als Ursache für das Sinken hin.

Die intransparente Politik, die die damaligen schwedischen sozialdemokratischen Regierungen betrieben, förderte viele Spekulationen – Bomben der Mafia oder des KGBs seien verantwortlich.

Nachdem 2004 Vertreter des schwedischen Zolls und des Militärs einräumten, dass mittels der „Estonia“ Militärtechnologie aus der ehemaligen Sowjetrepublik Estland nach Schweden geschmuggelt wurde, wurde es wieder laut um das Fährunglück. Diese Aussagen bestätigte auch Trivimi Velliste, zur Zeit der Katastrophe Außenminister Estlands.

Das Aufklärung nicht erwünscht schien, demonstrierte auch das Gesetz der „Totenruhe“: schwedischen, estnischen und finnischen Staatsbürgern war sogar die Fahrt über dem Wrack untersagt. Den schwedischen Filmemachern der Discovery drohten aufgrund ihrer Tauchfahrt Freiheitsstrafen von zwei Jahren. Vor Gericht wurden Henrik Evertsson und Linus Andersson im Februar jedoch frei gesprochen, da sie mit einem deutschen Schiff unterwegs waren. Deutschland hatte dieses Abkommen nicht ratifiziert.

Doch nun war der Druck der Öffentlichkeit und auch der Opposition zu groß - im schwedischen Parlament wurde Ende Mai das Gesetz abgeschafft, offiziell darf ab dem ersten Juli das Wrack untersucht werden.

Die Untersuchungen werden am 8. Juli beginnen, bei den Tauchgängen sollen bis zu 25.000 Aufnahmen gemacht werden, um das Schiffswrack digital nachzubilden. Diese Nachbildung wird allerdings erst im Frühling zu sehen sein. Zudem wird das Wrack mittels Schallimpulsen - Sonar- sowie Echolot-Technologie bemessen.

Auch die Bugklappe, das einzige Element des Schiffes, das geborgen wurde, soll erneut darauf untersucht werden, ob sie etwa die Löcher in der Schiffswand verursacht habe. Die Theorie, welche in dem Dokumentarfilm diskutiert wurde, ist der Rammstoß eines U-Bootes.

Gleichzeitig läuft die Befragung der Überlebenden durch Mitglieder der „Havarie-Kommission“. Damit wird einer Forderung der Organisation „Stiftung der Estonia-Opfer und Angehörigen“ (SEA) nachgegangen, welche seit 26 Jahren vergeblich gestellt worden war.

Für die Hinterbliebenen gab es letzte Woche jedoch auch einen Rückschlag. Der Verfassungsausschuss des schwedischen Reichstags erklärte nämlich, die Staatsanwaltschaft werde keine Ermittlung gegen Politiker einleiten, die nach der Katastrophe in der Verantwortung waren.

Befragt werden könnte nach dem Willen der Betroffenen der damalige Ministerpräsident Göran Person demnach, warum er nach 2004 die angekündigte Untersuchung, ob das schwedische Militär Frachtgut aus Estland bestellt habe, sowie ob fremde Geheimdienste involviert waren, nicht umgesetzt habe. Auch sollten Personen um die schwedische Militärbehörde „Büro für spezielle Materialbeschaffungen“ interviewt werden.

Lennart Berglund, einer der Vorsitzenden von SEA, meint dennoch auf Anfrage: „Wir werden die Wahrheit über die MS Estonia erfahren, da sind wir ganz sicher. Entweder durch die Behörden oder durch private Initiativen. Wer dann für ein eventuelles Verbrechen belangt werden kann, hängt davon ab, was zur Katastrophe geführt hat.“

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