Reportage aus Lwiw Auf der Flucht im eigenen Land

Lwiw (Lemberg) · Immer mehr Menschen versuchen, die Ukraine zu verlassen. Die Straßen nach Polen sind verstopft. In der Stadt Lwiw (Lemberg) gibt es keine freien Zimmer mehr, erste Flüchtlinge kommen in Kirchen unter.

 Am Samstag fuhren nur noch zwei Züge von Lwiw nach Polen, und nur Frauen und Kinder durften einsteigen.

Am Samstag fuhren nur noch zwei Züge von Lwiw nach Polen, und nur Frauen und Kinder durften einsteigen.

Foto: dpa/Vincent Haiges

Das Großmütterchen hätte es beinahe geschafft in den noch friedlichen Teil Europas. Doch etwas geschah mit der betagten Ukrainerin nur wenige Hundert Meter entfernt vom Grenzübergang Krakowez. Ihr Herz versagte, weil sie die Kraft verlassen hatte – nach Stunden oder Tagen der Flucht über die verstopften Autobahnen. Oder ihr schwand der Mut, ihrem Land vielleicht für immer den Rücken zu kehren. Die Seniorin liegt bleich wie eine Wachsfigur auf einem Stück Pappe auf einem Raststättenparkplatz an der Grenze. Ihr Sohn bearbeitet mit beiden Händen den Brustkorb der Seniorin. Ihr Körper zuckt im Takt der Herzmassage. Das Gesicht des Großmütterchens ist weiß wie der Raureif auf dem Rasen an der Grenze. Ihre Augen sind geschlossen wie zu einem stummen Gebet. Endlich sind Sirenen zu hören. Sanitäter steigen aus und prüfen den Puls der Frau. Es ist nichts mehr zu machen. Das Großmütterchen ist noch in der Ukraine und so kurz vor Europas Außengrenze gestorben.