Augenzeugenbericht aus Istanbul "Die Leute dachten, jetzt bricht Krieg aus"

Düsseldorf · Yalcin Öztürk arbeitet als Kameramann in Istanbul. Seine Eindrücke vom Putschversuch hat er per Smartphone live auf Periscope gestreamt. Hier erzählt er, was er in den Straßen von Istanbul erlebt hat.

Putschversuch in der Türkei: Armee und Bevölkerung liefern sich Kämpfe
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Türkei: Armee und Bevölkerung liefern sich Kämpfe

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Herr Öztürk, wie war die Stimmung, als gestern Nacht klar wurde, dass das Militär putscht. Das kam doch für alle unerwartet, oder nicht?

Öztürk Ja, es war völlig unerwartet. Gegen 22 Uhr wurde mir plötzlich klar, dass etwas vor sich ging. Bei Twitter kamen die ersten Nachrichten, dass Soldaten die beiden Bosporusbrücken gesperrt hätten und Jets über die Stadt flögen. Wir waren völlig unvorbereitet. Niemand hatte mit diesem Putsch gerechnet, weder Regierungsanhänger noch Regierungskritiker. Entsprechend wusste auch niemand, wie er reagieren sollte. Natürlich hatte man in Diskussionen von Regierungsgegnern immer mal wieder gehört, dass es einen Putsch geben müsste, aber niemand hätte daran geglaubt, dass es wirklich passiert. Und auf einmal kamen diese Nachrichten durch.

Und dann?

Öztürk Die Leute waren sich sicher: Jetzt bricht Krieg aus. Einige sind sofort in die Läden gestürmt, um Hamsterkäufe zu machen. Brot, Getränke, Toilettenpapier, es wurde einfach alles eingekauft, was überlebenswichtig ist. An den Geldautomaten standen die Menschen in endlos langen Schlangen. Um ein Uhr nachts bekam man nirgends mehr Geld. Innerhalb von drei Stunden waren sämtliche Automaten leer gesaugt. Es wusste ja auch keiner: Was ist am Montag? Kann ich dann noch einkaufen? Bekomme ich dann noch Geld? Vor allem Unsicherheit war überall zu spüren. Keine aggressive Stimmung, sondern Unsicherheit.

Und ist das Ganze noch mehr eskaliert, als die Ausgangssperre kam?

Öztürk Nein, eigentlich gar nicht. Im Gegenteil, die Ausgangssperre hat gar nichts gebracht. Es wurde ja mit der Zeit immer klarer, dass die Soldaten nicht in der Lage waren, gegen die Demonstranten vorzugehen. Zwar fielen schon immer wieder Schüsse, aber schlimmer als die Militärpräsenz war der Lärm der Jets. Erst sind sie langsam und tief über die Stadt geflogen und haben dann mit einem so extrem Schub beschleunigt, dass der Schall einen lauten Knall verursacht hat. Es hörte sich an, als würden Bomben fallen. Bei vielen wurden dadurch die Fenster zerschmettert. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber ein paar Kollegen haben mir erzählt, dass wäre ein Manöver, dass schon Mubarak in Ägypten angewendet hat, um Angst in den Straßen zu schüren.

Aber das hat die Leute ja auch nicht abgehalten auf die Straße zu gehen.

Öztürk Nein, es waren einfach zu viele Bürger und zu wenig Soldaten. Vor allem, nachdem Erdogan über das Fernsehen dazu aufgerufen hat, auf die Straße zu gehen. Ich bin mir sicher, dass spätestens danach auch über die sozialen Medien gezielt Menschen mobilisiert wurden.

Aber es hieß doch, Facebook und andere sozialen Medien seien abgeschaltet gewesen.

Öztürk Dem war aber nicht so. Ich und viele andere haben die ganze Zeit auf Perscope live gestreamt und auch getwittert. In der Türkei sind die sozialen Medien extrem beliebt. Und ich bin sicher, dass die Regierungsnahen die sozialen Medien genutzt haben, um Menschen zu mobilisieren. Es ist schwer, das zu erklären, aber es gab so viele Ströme von großen Menschenmengen in den Straßen, am Flughafen, an den Brücken und am Taksim-Platz, dass man den Eindruck bekam, jemand will gezielt die Nachricht streuen: "Wir sind hier draußen und setzen uns ein, kommt ihr auch!"

Auf Persicope sah es so aus, als ob die Stimmung in den Straßen insgesamt sehr ruhig war. Stimmt das?

Öztürk Ja, das stimmt. Es gab schon Schüsse und einige Verletzte, aber insgesamt war die Stimmung für einen versuchten Putsch sehr ruhig. Weder die Szenen, die ich miterlebt habe, noch was ich so auf Periscope gesehen habe, zeugte von Aggressionen oder größeren Ausschreitungen.

Nicht mal auf dem Taksim-Platz?

Öztürk Nicht mal da. Ich war so gegen 12 Uhr nachts dort, und soweit ich es sehen konnte, waren dort gerade mal 25 Soldaten, die im Halbkreis versucht haben, eine riesige Menschenmenge abzuhalten. Sie haben in die Luft geschossen und es gab ein Handgemenge. Aber sie waren nunmal in der Unterzahl, und am Ende haben die Soldaten ihre Waffen vor den Polizisten niedergelegt und sind abgeführt worden.

Und wie ist die Stimmung heute Morgen?

Öztürk Heute Morgen liegt Siegesstimmung in der Luft. Autos fahren hupend durch die Gegend. Polizisten posieren vor den liegengebliebenen Panzern und schreien "Wir haben den Krieg verhindert!". Ich glaube, die Soldaten dachten, dass sie einfaches Spiel haben. Dass sie sich auf die Brücken stellen, ein paar Mal in die Luft schießen und dann ist der Putsch passiert. Dass ihnen ausgerechnet die sozialen Medien einen Strich durch die Rechnung machen könnten, haben sie nicht erwartet.

Das Gespräch führte Susanne Hamann.

(ham)
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