Serie Protestkultur Nicht mit mir!

Düsseldorf · Die Protestkultur erlebt eine Renaissance. Wir starten eine Serie zum Thema. Zum Auftakt erklären wir, was Protest heute bedeutet.

 Leshia Evans stellt sich im Juli 2016 Polizisten in den Weg. Das Foto gewann in der Kategorie "Zeitgeschehen" den World Press Photo-Wettbewerb.

Leshia Evans stellt sich im Juli 2016 Polizisten in den Weg. Das Foto gewann in der Kategorie "Zeitgeschehen" den World Press Photo-Wettbewerb.

Foto: ap, PDJ

Manchmal kommt Protest unscheinbar daher, niedlich sogar. In Syrien zum Beispiel, im Jahr 2013. Damals beschrifteten Oppositionelle Abertausende Tischtennisbälle mit Parolen wie "Freiheit!" und "Es reicht!". Sie wollten ein Zeichen setzen gegen das Assad-Regime, und sie schütteten die Bälle in die gewundenen und verwinkelten Gassen von Damaskus. Die Bälle sprangen wild klackernd umher, jeder sah hin und staunte oder lachte, und Polizisten wurden angewiesen, das Spielzeug einzusammeln: Die schwer bewaffneten Hüter der staatlichen Ordnung mühten sich dabei sehr. Bald waren die Bälle bloß noch Requisiten in diesem Schauspiel; Hauptdarsteller waren die Polizisten, und sie agierten wie Clowns.

Der Protest erlebt eine Renaissance. Der "Women's March" in Washington und die Anti-Rassismus-Bewegung "Black Lives Matter" sind Beispiele aus den USA, auch in Rumänien, Mexiko und Frankreich wird protestiert - unter anderem. Viele Menschen sind aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr einverstanden mit den Verhältnissen, mit dem System. "Wir müssen uns heute damit auseinandersetzen, dass irrationale Faktoren politikmächtig werden und dass die Kräfte der Aufklärung an Grenzen stoßen können." Der scheidende Bundespräsident Joachim Gauck hat das kürzlich gesagt. Gute Zeiten also für Protest.

Das Schweigen vor Zeugen brechen

Protest ist ein Impuls und zunächst gewaltfrei, darin unterscheidet er sich von Widerstand und Rebellion. "Protestari in der alten gerichtlichen Bedeutung des Wortes heißt: das Schweigen vor Zeugen brechen, damit Schweigen nicht als Zustimmung gedeutet wird", schrieb der Religionsphilosoph Klaus Heinrich. Protestieren bedeutet, sich öffentlich zu Wort zu melden, aufzustehen gegen einen Zustand, der als unhaltbar empfunden wird. Protest ist emotional aufgeladen, er zielt darauf, dass andere Prioritäten gesetzt werden, eine andere Ordnung herrschen möge.

Die Choreographie des Protests hat sich über die Jahrzehnte kaum verändert. Er beginnt mit dem überraschenden Normbruch einer kleinen Gruppe, der von den Protestierenden als legitim erachtet wird. Die Tischtennisbälle in Syrien. Das Klavierspiel des Mannes auf den Barrikaden in der Ukraine. Die junge Frau im Sommerkleid, die sich in Louisiana bei einer Demo gegen Rassismus der Polizei in den Weg stellt. In Serbien gingen Protestierende mit Spiegeln auf Polizisten zu, um ihnen zu zeigen, wie ungleich die Konfrontation mit Zivilisten ist. Und im Sudan trugen Menschen kiloweise Orangen im Arm, weil orange die Farbe der Revolution ist.

Je mehr Aufmerksamkeit eine Aktion bekommt, desto mehr Menschen schließen sich ihr an. Protest baut auf Gemeinschaft. Srdja Popovic, dessen "Otpor!"-Bewegung zum Sturz von Slobodan Milosevic beitrug, spricht von "Lachtivismus": Streiche, die dem Schrecken mit Humor begegnen. Sie potenzieren in den sozialen Netzwerken ihre Wirkung. Popovic hat aus dem Protest ein Geschäftsmodell gemacht. Er berät nichtstaatliche Organisationen und veröffentlichte den Bestseller "Protest! Wie man die Mächtigen das Fürchten lehrt". Er weiß: Gewaltfreies Dagegensein ist doppelt so erfolgreich wie bewaffnetes, das haben US-Forscher herausgefunden, die 300 Bürgerrechtskonflikte zwischen 1900 und 2006 untersuchten. Vor allem in Diktaturen sei Humor der erste Schritt zu kollektiver Ermutigung, meint Popovic, dessen Vorbild Gandhi ist.

Aus Stigma wird Charisma

Protest braucht Symbole. "Der Außenseiter kann durch die Inszenierung des Normbruchs zum Helden werden, aus Stigma wird Charisma", sagt der Soziologe Rainer Paris, der Protest erforscht. Er begreift Protest als eine Initiative des Neuaushandelns von Normalität. Es gehe darum, Legitimität umzuverteilen. Die Gefahr sei jedoch, dass der Protest über kurz oder lang entweder leerlaufen könne oder sich radikalisiere und zu gewalttätigem Widerstand werde. "Protest lebt von dem, wogegen er aufbegehrt." Insofern ist er stets auf eine Reaktion der Herrschenden angewiesen, die ihn indirekt legitimiert und bestätigt.

Gemeinhin war Protest eine Grundhaltung der Jugend, doch das scheint sich verschoben zu haben. In autoritären Regimen ist das zwar noch so. In westlichen Demokratien aber sind Wutbürger oftmals "konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung", wie der "Spiegel" erkannt hat. Es sind Menschen, die ein tiefsitzendes Unbehagen an der Brüchigkeit überkommener Normalität quält. Sie fürchten um ihre Verdienste und betrauern die Fragmentierung ihrer Lebensentwürfe und des emotionalen Hinterlandes, der Familie also. Sie sehen all das abgewertet und in Frage gestellt, was jahrzehntelang zu ihrer Zufriedenheit beitrug. Paris formuliert es so: "Mehrheiten lassen sich nicht mehr gefallen, dass ihnen Minderheiten auf dem Kopf herumtanzen." Viele Menschen haben schlichtweg Angst, dass ihnen genommen wird, was sie als vertraut und wertvoll empfunden haben. Protest ist deshalb zuallererst Beschwerde, Klage und Anklage; für die Realisierung der Forderungen sind jedoch andere zuständig. Erst wenn aus Sprüchen Argumente werden, kann der Protest dazu beitragen, eine neue Normalität herbeizuführen.

Wenn es gefährlich wird

Im Gegensatz zum politischen Protest in Diktaturen, der die Herrschenden moralisch diskreditieren möchte und im Letzten auf Umsturz zielt, hat Protest im Westen meist eine Ventil-Funktion. Die Protestierenden möchten eine neue Definition des Gemeinwohls aushandeln. Wichtig ist allerdings, dass die Unterscheidung zwischen Gegnern und Feinden erhalten bleibt. Gegner beschäftigen sich im Streit mit der Meinung des anderen, sie diskutieren, es kommt zum Diskurs. Feinde wollen einander im Gegensatz dazu gar nicht zu Wort kommen lassen, sie brüllen den anderen nieder und werden gewalttätig. Dann wird es gefährlich.

Im Idealfall trägt Protest zu einem neuen Gemeinwesen bei. Das funktioniert aber nur, wenn Protest kein Selbstzweck ist, wenn sich die Initiatoren nicht als Avantgarde wahrnehmen, die vom Thron der Moralität agiert und die Massen im Grunde gar nicht erreichen will. Für den Protest-Profi Srdja Popovic ist der Idealtypus des Protestierenden deshalb der Hobbit aus dem "Herrn der Ringe": ein kleiner Mensch, dem im Verbund mit unheroischen Freunden das Unmögliche gelingt.

(hols)
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