Katastrophale Lage nach Unwetter Demonstranten in Libyen wollen Haus des Bürgermeisters von Darna anzünden
Kairo/Bengasi · Verwesende Leichen, verschmutzte Brunnen, Zehntausende Obdachlose: In den Überschwemmungsgebieten in Libyen ist die Versorgungslage weiter alarmierend. Derweil mischt sich in die Verzweiflung der Überlebenden auch Wut.
Während Rettungsteams in der von Überschwemmungen zerstörten Hafenstadt Darna in Libyen wegen der prekären Trinkwasserversorgung Alarm schlagen, entlädt sich unter den verzweifelten Überlebenden Wut auf die politischen Eliten. Hunderte aufgebrachte Menschen forderten vor einer Moschee im Zentrum der verwüsteten Hafenstadt, dass die Verantwortlichen der Katastrophe zur Rechenschaft gezogen werden, wie Aufnahmen des libyschen TV-Senders Al-Masar am Montag zeigten. In Folge des Sturms „Daniel“ waren zwei Dämme in Darna gebrochen. Den Behörden wird vorgeworfen, diese nicht ordnungsgemäß instand gehalten und somit zum Ausmaß der Katastrophe beigetragen zu haben. Der Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf.
Laut Augenzeugen sollen Demonstranten versucht haben, das Haus des zur Zeit suspendierten Bürgermeisters Abdel-Moneim al-Gheithy in Brand zu setzen. Durch die schweren Überschwemmungen sind die Wasserquellen in der Katastrophenregion stark mit Abwässern verunreinigt. Tausende Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser mehr. Die Hilfsorganisation International Rescue Committee (IRC) warnte eindringlich vor einer sich „rasch ausweitenden Gesundheitskrise“, vor allem in Darna. Dutzende Kinder seien bereits wegen verschmutzten Wassers erkrankt, hieß es.
Auch die Vereinten Nationen zeigten sich besorgt über die Zustände im Osten des Bürgerkriegslandes. Insbesondere verunreinigtes Wasser und mangelnde sanitäre Einrichtungen erhöhten das Risiko von Krankheitsausbrüchen, hieß es in einer am Montag veröffentlichten Erklärung von UNSMIL, der UN-Mission in Libyen. Teams der Vereinten Nationen arbeiteten daran, eine „zweite verheerende Krise in der Region“ und die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern. Die EU sagte Libyen weitere 5,2 Millionen Euro für humanitäre Hilfe zu. Auch die USA stellen weitere elf Millionen Dollar (zehn Mio Euro) bereit.
Von der Katastrophe sind auch viele Migranten betroffen. Vor den Überschwemmungen lebten Tausende von ihnen allein in Darna. Die UN-Organisation für Migration (IOM) geht davon aus, dass die Zahl der Todesopfer unter den Migranten besonders hoch sein werde, da sie in sehr niedrig gelegenen Gebieten angesiedelt gewesen seien, wie die Organisation dem britischen Sender BBC mitteilte. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden bis Ende vergangener Woche rund 4000 Todesopfer identifiziert. Die IOM geht davon aus, dass sich darunter allein rund 400 Migranten befanden. Diese Zahlen dürften mit der andauernden Bergung weiterer Leichen noch steigen.
In Libyen halten sich Hunderttausende Migranten auf. Einige leben und arbeiten langfristig in dem nordafrikanischen Land, während es andere als Transitland nutzen, um nach Europa zu gelangen. Die IOM und die WHO geben die Zahl der bestätigten Todesfälle ähnlich hoch an. Die Regierung im betroffenen Osten Libyens bezifferte die Zahl der offiziell registrierten Toten mit Stand vom Montagabend auf 3338. Zehntausende von Menschen wurden durch die Katastrophe obdachlos.
Ruf nach Rechenschaft für Versäumnisse in Darna
Schon lange hatten Experten darauf hingewiesen, dass die beiden Dämme bei Darna einem starken Hochwasser möglicherweise nicht standhalten könnten. Wiederholt forderten sie Reparaturmaßnahmen an den beiden Bauwerken nahe der Küstenstadt im Nordosten Libyens. Doch inmitten der Unruhen und der politischen Zerrissenheit des Landes geschah nichts oder zumindest nicht genug.
„Im Falle einer großen Überschwemmung werden die Folgen für die Bewohner des Tals und der Stadt katastrophal sein“, mahnte noch im vergangenen Jahr Abdelwanis Aschur, Professor für Bauingenieurwesen, in einer Studie. Am 11. September bewahrheiteten sich die Befürchtungen. In den frühen Morgenstunden wurden die Menschen in Darna von lauten Knallgeräuschen geweckt, bevor die Fluten ihre Stadt überschwemmten. Die beiden Dämme waren gebrochen.
Verheerende Wassermassen stürzten in die Stadt, spülten ganze Stadtteile ins Meer. In Sekunden rissen die Fluten Häuser weg, Straßen und Brücken. Eine Woche danach lag die Zahl der Toten laut Libyschem Roten Halbmond und UN bei mehr als 11 300. Mehr als 10 000 Menschen wurden noch vermisst.
Die Dämme Abu Mansur und Darna wurden in den 1970-er Jahren von einer jugoslawischen Baufirma oberhalb des Darna-Tals gebaut, das die Stadt teilt. Die Abu-Mansur-Staumauer, 14 Kilometer von dem Ort entfernt, war 74 Meter hoch und konnte bis zu 22,5 Millionen Kubikmeter Wasser stauen. Der Darna-Damm, auch Belad genannt, war weit näher an der Stadt errichtet und auf 1,5 Millionen Kubikmeter Wasser ausgelegt.
Die beiden Konstruktionen aus Lehm, Steinen und Erde sollten die Stadt vor Sturzfluten schützen, die in dieser Gegend nicht selten sind. Das hinter den Dämmen gesammelte Wasser wurde für die Bewässerung flussabwärts gelegener Felder genutzt.
Doch der Zahn der Zeit nagte an den Bauwerken. „Beide Dämme waren seit vielen Jahren nicht mehr gewartet worden, obwohl die Stadt in der Vergangenheit wiederholt von Überschwemmungen getroffen wurde“, sagt Saleh Emhanna von der Universität Adschdabia. „Sie waren baufällig.“
Bei einem starken Sturm 1986 seien sie schwer beschädigt worden, und rund ein Jahrzehnt später seien bei einer von der Regierung beauftragten Bestandsaufnahme Risse und Spalten festgestellt worden, erklärte Generalstaatsanwalt Al-Sedik al-Sur nach dem Unglück. 2007 wurde das türkische Unternehmen Arsel mit Wartungsarbeiten beauftragt. Laut Website der Firma wurde diese im November 2012 abgeschlossen.
Nach dem Sturz von Langzeitmachthaber Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 stürzten derweil rivalisierende Milizen das nordafrikanische Land ins Chaos. Mit einem Bürgerkrieg zerfiel es in zwei Machtbereiche, mit einer international anerkannten Regierung in Tripolis und einer zweiten, konkurrierenden im Osten – dort, wo auch Darna liegt.
2021 deckte eine staatliche Rechnungsprüfungsbehörde auf, dass 2012 und 2013 mehr als zwei Millionen Dollar für die Wartung der Dämme bereitgestellt worden, aber keine entsprechenden Arbeiten erfolgt seien. Staatsanwalt Al-Sur kündigte Ende vergangener Woche eine umfassende Untersuchung möglicher Versäumnisse an: „Ich versichere den Bürgern, dass die Staatsanwaltschaft gegen jeden, der Fehler begangen hat oder nachlässig war, entschieden vorgehen, ein Strafverfahren einleiten und ihn vor Gericht stellen wird“, sagt er.
Die Ermittlungen richteten sich sowohl auf die lokalen Behörden in Darna als auch auf mögliche Versäumnisse früherer Regierungen, erklärte Al-Sur. Die im Osten Libyens ansässige Regierung suspendierte derweil den Bürgermeister von Darna. Während der östliche Teil des Landes unter Kontrolle dieser Regierung steht, kontrolliert die international anerkannte in der Hauptstadt Tripolis die meisten staatlichen Mittel und ist für die Aufsicht von Infrastrukturprojekten zuständig.
Menschenrechtler und Aktivisten sind skeptisch, was die Aufklärung in einem zerrissenen und von Milizen beherrschten Land angeht und fordern eine internationale Untersuchung. Schon bisher habe das „räuberische“ Verhalten dieser Gruppen und Milizen zu einer „Veruntreuung libyscher Staatsgelder und zum Verfall der Institutionen und der Infrastruktur“ geführt, hieß es auch im Bericht einer UN-Expertengruppe zu Libyen.
Vernachlässigung und Korruption gelten in dem an Erdöl und Erdgas reichen Land als weit verbreitet. Im vergangenen Jahr lag Libyen auf dem Korruptionsindex von Transparency International auf Rang 171 von 180.
Eine Online-Petition, die in den vergangenen Tagen von Hunderten Menschen, darunter libyschen Rechtsgruppen und Nichtregierungsorganisationen, unterzeichnet wurde, unterstreicht jetzt den Ruf nach einer übergreifenden Untersuchung. Der Kern der Forderung: Ein unabhängiges internationales Komitee soll die Ursachen der Katastrophe aufdecken und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.