Die schleichende Katastrophe Jeder siebte Mensch hungert

Düsseldorf (RP). In einigen Ländern ist Hunger das beherrschende Thema im Alltag. Während dies für die westliche Wohlstandsgesellschaft nur schwer vorstellbar ist, sprechen die Zahlen für sich: Jeder siebte Mensch auf der Welt hungert.

Hunger in Afrika - In Kenia kommt kaum Hilfe an
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Hunger in Afrika - In Kenia kommt kaum Hilfe an

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Im April 2008 brennen auf den Straßen von Port au Prince die Barrikaden. Nachdem die Nahrungsmittelpreise auf Haiti innerhalb von nur einem Monat um mehr als 50 Prozent angestiegen sind, bricht in der Hauptstadt und in anderen Orten auf der Karibikinsel eine Revolte aus. Autoreifen brennen, marodierende Banden ziehen plündernd durch die Straßen. Nur mit Mühe gelingt es den Sicherheitskräften nach Tagen, die Ordnung wiederherzustellen.

Haiti ist nur ein Beispiel von rund 40 Ländern, die das Frühjahr 2008 in einen Gewaltstrudel stürzt: Im Zuge der damaligen Nahrungsmittel-Preisexplosionen kommt es zu Aufständen etwa in Guinea, Mauretanien, Marokko, Usbekistan, und Jemen. Der Hunger ist längst sicherheitspolitischer Faktor, Auslöser sozialer Unruhen und gewaltsamer Konflikte geworden.

Begreifen, wie brisant die Lage ist, lässt sich in einer Wohlstandsgesellschaft wie der unseren nur schwer. Aufgerüttelt wird die westliche Öffentlichkeit höchstens, wenn es zu Gewaltausbrüchen kommt oder aber zu akuten Hungerkatastrophen wie derzeit am Horn von Afrika. Der ununterbrochene, schleichende Tod dagegen, der sich überwiegend auf der südlichen Erdkugel abspielt, bleibt weitestgehend unbeachtet.

Der globale Mittagstisch

Deshalb bemüht die Autorin Tanja Busse in ihrem Buch "Die Ernährungsdiktatur" ein Beispiel: den globalen Mittagstisch. Die gesamte Welt nimmt an diesem Tisch Platz, um für eine Stunde zu Mittag zu essen. Von den sieben Milliarden Menschen, die sich um den Tisch scharen, würden zwei Milliarden zu viele Kilos auf die Waage bringen, vier Milliarden Menschen könnten als normal ernährt angesehen werden. Dem gegenüber säße eine Milliarde Menschen, die hungern — jeder Siebte am Tisch. Dauert das Essen nur eine Stunde, würden 4000 Unterernährte tot von ihren Stühlen sinken.

Denn nach Angaben des World Food Programme der Vereinten Nationen (WFP) rafft der Hunger jährlich mehr Menschen dahin als Aids, Malaria und Tuberkulose zusammen. Das Paradoxe: Niemals zuvor wurde so viel Nahrung produziert, gab es so viele dicke Menschen — und so viele hungernde.

Bei dieser Katastrophe handelt es sich nicht ausschließlich um eine Folge von Naturgewalten wie Dürren oder Überschwemmungen. Das WFP konstatiert: "Es gibt genügend Nahrung auf der Welt, um jedem ausreichend Nahrung zur Verfügung zu stellen." Es handelt sich um ein Versagen der Marktkräfte.

Während der Norden insgesamt zu viel produziert, stellt der Süden zu wenig her. Zudem macht der Autor Wilfried Bommert in seinem Buch "Kein Brot für die Welt" "ein unglückliches Zusammenspiel mehrerer Triebkräfte" als Ursache aus, darunter die hohen Ölpreise, den ansteigenden Fleischkonsum in China und Indien sowie Spekulationen.

Zentrales Problem ist der Klimawandel

Ein zentrales Problem bleibt dennoch der Klimawandel. Nach Schätzungen des WFP werden 2050 durch ihn zusätzlich 24 Millionen Menschen von Hunger betroffen sein. Dürren, Überschwemmungen, Zyklone — sie sorgen schon heute dafür, dass die Landwirtschaft in den betroffenen Regionen immer schwieriger, teils sogar unmöglich wird. Nach einer Prognose des UN-Weltklimarats werden ausgerechnet die Länder von extremer Witterung betroffen sein, die zu den Entwicklungsländern zählen und ohnehin durch ihre wachsende Bevölkerung Schwierigkeiten bei der Versorgung haben. Das betrifft insbesondere die Gebiete südlich der Sahara.

Doch auch indirekt sorgt der Klimawandel dafür, dass sich der Hunger verschärft — und zwar von Menschenhand. Die Rede ist von der immer stärkeren Fokussierung auf regenerative Energien. Ethanol und Biodiesel, einst als klimafreundliche Alternative zur endlichen Ressource Erdöl gepriesen, geraten zunehmend in Verruf. Die einfache Gleichung der Kritiker wie Wilfried Bommert: Klimafreundlicher Sprit wird durch leere Teller erkauft. Denn auch die Anbaufläche ist eine begrenzte Ressource. Jedes Stück Land, das für Mais, Raps, Soja, Palmöl und Zuckerrohr zur Herstellung von Biosprit genutzt wird, fehlt zur Produktion von Nahrungsmitteln. "Ackerland wird zum Spekulationsobjekt des 21. Jahrhunderts", meint Bommert.

Fleischverzehr als Statussymbol

Noch beschränkt sich der Anbau überwiegend auf Europa und die USA. Allerdings sind die Biosprit-Ziele der Industrienationen so ehrgeizig, dass sie die Rohstoffe für ihren Sprit bald importieren müssen. Das Nachsehen haben die Kleinbauern. 85 Prozent der heute 525 Millionen Bauernhöfe weltweit haben weniger als zwei Hektar Land. Die Welthungerhilfe warnte jüngst bei einer Anhörung im Bundestag vor dem sogenannten "Landgrabbing". Der Begriff bedeutet nichts anderes, als dass die Kleinbauern enteignet werden. Problem nur: Derzeit sind die Kleinbauern laut UN für 70 Prozent der Nahrungsmittelproduktion verantwortlich.

Und es droht noch von anderer Seite eine Verschärfung: durch die wachsende Fleischnachfrage. Aufstrebende Nationen wie China und Indien passen sich den westlichen Gebräuchen an: Fleischverzehr als Statussymbol. Konnten die Landwirte bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts fast gänzlich auf das Füttern von Getreide verzichten, hat sich dies mit der Hochleistungstierzucht geändert. Nahrungskonkurrenz zwischen Tier und Mensch.

Trotz all dieser Probleme reißen die Bemühungen im Kampf gegen den Hunger nicht ab. 2000 folgten zahlreiche Delegationen der Einladung des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan, um mit den "Millenniumszielen" die Welt zu verbessern. Die Delegierten versprachen, bis 2015 den Anteil der Unterernährten an der Weltbevölkerung auf zehn Prozent zu drücken. Kaum jemand glaubt heute angesichts von 14,3 Prozent noch daran, dass sich dieser Wert erreichen lässt. Erst im Februar kletterten die Nahrungsmittelpreise nach Angaben der Welternährungsorganisation über den Höchstwert der Lebensmittelkrise von 2008.

(RP)
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