Jüdisches Leben in Kalabrien Amerikanische Rabbinerin belebt süditalienisches Dorf

Serrastretta · Die Amerikanierin Barbara Aiello, nach eigenen Angaben die einzige Rabbinerin Italiens, hilft in einem entlegenem Ort in Kalabrien, die Menschen wieder an ihre jüdischen Wurzeln heranzuführen. Gleichzeitig kämpft sie in der kleinen italienischen Gemeinde gegen das Schrumpfen der Bevölkerung - ukrainische Flüchtlinge sollen dabei helfen.

Rabbinerin belebt süditalienisches Dorf
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So belebt eine US-Rabbinerin jüdische Wurzeln in Kalabrien

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Foto: AP/Andrew Medichini

In einem Dorf in den Apenninen setzt eine amerikanische Rabbinerin ein Versprechen um, das sie einst ihrem in Italien geborenen Vater gab: die Menschen in dieser südlichen Region von Kalabrien wieder an ihre jüdischen Wurzeln heranzuführen. Diese Verbindungen waren vor fünf Jahrhunderten durchtrennt worden, als Juden im Zuge der Inquisition gezwungen wurden, zum Christentum zu konvertieren.

Rabbinerin Barbara Aiello (74) hilft zugleich, Serrastretta wiederzubeleben - eines der vielen süditalienischen Dörfer, die unter Bevölkerungsschwund leiden. Junge Leute verlassen sie in Scharen, um Arbeit zu finden, und jedes Jahr gibt es mehr Sterbefälle als Geburten.

Jetzt hört man im Dorf neben dem Schwatzen von Besuchern, die in Aiellos winzige rustikale Synagoge kommen, das Lachen neu eingetroffener Kinder. Im Frühjahr hat die Rabbinerin geholfen, ukrainische Flüchtlinge hierhin zu bringen, darunter einige mit jüdischen Wurzeln. Sie leben jetzt im Dorf, vielleicht dauerhaft, wie Bürgermeister Antonio Muracca hofft. Serrastrettas Bevölkerung ist von 4000 im Jahr 2001 auf 2900 im Jahr 2020 geschrumpft.

Auf einem kleinen hölzernen Tisch nahe dem Synagogeneingang steht ein vergilbtes Foto. Es zeigt den Vater der Rabbinerin, Antonio Abramo Aiello, als Kind. In Serrastretta geboren lernte er für seine Bar Mitzwa, aber bevor das Ritual, das die Schwelle zum Erwachsenenwerden markiert, stattfinden konnte, wanderte die Familie 1923 in die USA aus.

Tochter Barbara kam in Pittsburgh zur Welt und wurde in New York zur Rabbinerin in einem internationalen Rabbinerseminar ordiniert, als sie 51 war. Vor ihrem Rabbiner-Studium hatte sie lange Jahre als Sonderpädagogin für Kinder gearbeitet. Als Rabbinerin wirkte sie zunächst in einer Synagoge in Florida, danach 2004/2005 in Mailand. Dann zog es sie unwiderstehlich in die Heimatstadt ihres verstorbenen Vaters, um dort als Rabbinerin zu dienen.

Wenn ausländische Besucher zu Zeremonien in ihrer Synagoge ankommen, zeigt die Rabbinerin das Haus in dem Ort, das einst das jüdische Viertel in der nahe gelegenen Stadt Lamezia Terme war, wo ihr Vater von seinem jüdischen Glauben erfahren hatte. Sie zeigt auf eine Plakette, die besagt, dass es hier einst eine „eifrige Gemeinde“ von Juden gab, vom 13. bis zum 16. Jahrhundert.

An einem jüngsten Sommerabend war Aiello, die eine Jarmulke und eine Halskette mit einem kleinen Davidstern trägt, auf dem Weg in die alte Siedlung, als ein örtlicher Einwohner, Emilio Fulvo, sie anhielt, um Guten Tag zu sagen. Der heute 73-jährige war 15, als sich bei genealogischen Nachforschungen herausstellte, dass seine Familie jüdische Wurzeln hatte. Mehr über seinen Hintergrund zu erfahren, „hat mich befreit“, sagt Fulvo. Er habe gewusst, „dass etwas fehlte“, als er in Süditalien als Katholik aufwuchs.

Familien wie seine sind als „B'nai Anusim“ bekannt - Abkömmlinge „von jenen, die gezwungen wurden, sich christlich taufen zu lassen und sich öffentlich vom Judentum loszusagen“, wie die Rabbinerin erklärt.

Ihre eigene Familie wurde laut alten Überlieferungen von Generation zu Generation während der Inquisition 1492 aus Spanien verstoßen und landete schließlich am südlichen Ende des Apennin, wo Serrastretta nistet - über einer Straße, die sich auf bewaldeten Abhängen entlang windet.

Die Abgeschiedenheit vieler Dörfer in Kalabrien und die Neigung der Italiener, über Generationen hinweg an einem festen Ort bleiben, fördern mündliche Überlieferungen. Das hat dazu beigetragen, den „Funken des Judentums“ sogar unter jenen wachzuhalten, die nichts von ihrem jüdischen Erbe wissen, wie es Roque Pugliese, ein kalabrischer Jude, beschreibt. Der aus Argentinien eingewanderte Arzt erzählt, dass er einst Einwohner in einem Pflegeheim in Kalabrien ein altes Lied über Pessach singen hörte - leise, als hätten sie Angst, dass jemand es hören könnte.

Vira ist eine von fünf ukrainischen Müttern, die zusammen mit insgesamt neun Kindern dank Aiello und anderen Helfern nach Serrastretta gebracht worden sind. Zwei der Frauen sind mittlerweile wieder zurück in der Ukraine, aber Vira erwägt, sich in dem Dorf anzusiedeln. „Mein Sohn, mein einziger Sohn, sein Leben, seine Zukunft, seine Sicherheit sind das Wichtigste“, sagt sie über ihren zweieinhalbjährigen Sprössling Platon. „Barbara hat uns in einen sicheren Ort eingeladen. Es war wirklich wie ein Wunder.“

Vira ist auch dankbar für die Gelegenheit, etwas über das Judentum zu erfahren. Ihre auf der Krim geborene Großmutter ist jüdisch, aber ihr Vater, ein Russe, hat sie stets in die Kirche mitgenommen, sodass sie bis zu ihrem Eintreffen in Serrastretta niemals eine Synagoge betreten hatte.

Die Rabbinerin sagt nach eigenen Angaben jenen, die mehr über ihre Vergangenheit wissen wollen, sie sollten den Traditionen folgen, die sinnvoll für sie seien. „Nimm alle an, nimm manche an, aber sei dir dessen bewusst, dass du einst jüdisch warst (beziehungsweise früher die Familie), und wir können dich (damit) verbinden, wiederverbinden, wenn du es möchtest.“

Serrastrettas katholischer Gemeindepastor Luigi Iuliano hat Aiello im April eingeladen, in seiner Kirche zu Ostern einen Psalm vorzulesen. Zwischen der Rabbinerin und ihm gebe es „keinen Wettbewerb, keine Eifersucht“, sagt er. So habe man Kommunionkindern die Thora gezeigt und sie in die Synagoge gebracht, um sie darauf aufmerksam zu machen, „dass unser Glaube auf gewisse Weise aus dem hebräischen Glauben kommt“, sagt Iuliano.

Aiello ist nach eigenen Angaben die einzige Rabbinerin in Italien und die einzige, die eine Synagoge in Kalabrien betreibt. Sie stützt sich auf Hochzeitsfeiern, Bar und Bat Mitzwas, um ihre Synagoge finanziell am Laufen zu halten. Sie bekommt kein Geld vom Steuerzahler. Die italienische Regierung erkennt nur die orthodoxen jüdischen Gemeinden in Italien an, deren offizielle Mitgliederzahl bei 23.000 liegt. Fast 50 Prozent davon leben in Rom, gerade einmal an die 200 im südlichen Italien.

(alma/dpa)
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