Sexuelle Gewalt in Ägypten In der Menge werden Frauen zu Freiwild

Ägypten ist eine Gesellschaft der Männer. Manche verstehen die Massenproteste als Freifahrtschein für Gewalt gegen Frauen. Für sie ist der Umbruch in ihrem Land besonders gefährlich. Allein in der vergangenen Woche wurden laut Human Rights Watch in drei Tagen 91 Frauen vergewaltigt. Auf dem Tahrir-Platz, im Herzen Kairos. Die Männergruppen gehen gezielt vor.

Frauen auf dem Tahrir-Platz in Kairo
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Frauen auf dem Tahrir-Platz in Kairo

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Ägypten ist eine Gesellschaft der Männer. Manche verstehen die Massenproteste als Freifahrtschein für Gewalt gegen Frauen. Für sie ist der Umbruch in ihrem Land besonders gefährlich. Allein in der vergangenen Woche wurden laut Human Rights Watch in drei Tagen 91 Frauen vergewaltigt. Auf dem Tahrir-Platz, im Herzen Kairos. Die Männergruppen gehen gezielt vor.

Für die einen ist es eine Revolution, für andere ein schrecklicher Alptraum. Während die Massen für ein neues Ägypten demonstrieren, kommt es vor allem auf dem Tahrir-Platz mit erschreckender Regelmäßigkeit immer wieder zu sexuellen Übergriffen auf Frauen. Öffentlich. Viele schauen zu, kaum jemand tut etwas. Es fängt mit verbaler Belästigung an und endet im schlimmsten Fall mit einer brutalen Vergewaltigung.

"Frauen sollten den Tahrir-Platz möglichst meiden. Nur ein männlicher Begleiter reicht nicht aus", lesen sich Twitter-Meldungen an den Tagen der großen Massenkundgebungen. Verschiedene Frauengruppen und Aktivisten wie die "Tahrir Bodyguards" versuchen die Gegenwehr zu organisieren und patrouillieren, leuchtende Westen tragend, über den Kundgebungsplatz auf der Suche nach Frauen in Not.

Der Aufruhr lässt sie die Hemmungen verlieren

"Wisst ihr, was sonst noch euren Zorn verdient?" twittert eine ägyptische Bloggerin wütend. "Massenhafte sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen, während ihr euch auf dem Tahrir-Platz schöne Feuerwerke anschaut. Wacht auf."

In Ägypten gehören sexuelle Übergriffe auf Frauen schon seit vielen Jahren zum Alltag. Doch mit dem Zusammenbruch des Polizeistaats im Arabischen Frühling 2011 haben die Täter - die oftmals straflos bleiben - ihre Hemmungen verloren, auch bis zum Letzten zu gehen. Die Attacken werden immer brutaler. Die andauernde Krise in dem nordafrikanischen Land verschlimmert die Lage weiter.

Das Vorgehen der Männer ist immer gleich: Sie umzingeln eine Frau, trennen sie von ihren männlichen Begleitern, reißen ihr die Kleider vom Leib, begrapschen sie und drängen sie schließlich an abgelegenere Orte. Ein Opfer musste nach Angaben einer Frauengruppe jüngst wegen schwerster Genitalverletzungen sogar operiert werden.

Ein Auto fesselte sie an den Boden

Die Menschenrechtler von Human Rights Watch schlugen Anfang Juli Alarm: Die öffentliche sexuelle Gewalt gegen Frauen habe in Ägypten inzwischen ein erschreckendes Ausmaß angenommen. Nach Beginn der jüngsten Proteste am 30. Juni seien in wenigen Tagen mehr als 90 Frauen bei Demonstrationen in Kairo Opfer teils schwerster sexueller Angriffe geworden, berichtet die Organisation. "Es handelt sich um schwere Verbrechen, die Frauen davon abhalten, in einem so kritischen Punkt in der Entwicklung des Landes voll am öffentlichen Leben zu partizipieren", analysiert die Gruppe.

Die Organisation sammelte Augenzeugenberichte. In einem auf youtube veröffentlichten Video erzählen einige Frauen von dem Horror der Straße (Video siehe unten). "Sie standen in einem engen Kreis um mich herum, begannen mich zu begrapschen, jeden Zoll meines Körpers", erzählt die westlich gekleidete Hania Moheeb von dem, was sie auf dem Tahrir erlebte. Sie sei so traumatisiert gewesen, dass sie noch nicht einmal um Hilfe rufen konnte. Sie habe nur noch geschrieen.

Die Schilderung einer anderen Frau offenbart die beispiellose Brutalität. Ein Auto sei hinter ihr vorgefahren, habe auf ihrem langen Haar gehalten und sie so auf dem Boden festgehalten. So hätten die Männer mit ihr machen können, was immer sie wollten.

Unter Mubarak wurde vieles totgeschwiegen

Übergriffe auf Frauen gehören im patriarchalisch geprägten Ägypten zum Alltag. "Am schlimmsten ist es auf der Straße", erzählt Danya Nadar von der "Operation Anti Sexual Harassment" in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Von einem Ort zum anderen zu kommen, empfindet sie als Kampf. "Ich brauche fünf Minuten von der U-Bahn in mein Büro in der Innenstadt. Danach bin ich völlig erledigt von den Sprüchen, den Blicken, von allem." Sexuelle Belästigung sei in Ägypten allgegenwärtig.

Unter dem Langzeitmachthaber Husni Mubarak wurden Übergriffe weitgehend tabuisiert. Ein Film des ägyptischen Drehbuchautors Mohamed Diab aus dem Jahr 2010 mit dem Titel "Kairo 678" machte jedoch auf die Missstände aufmerksam: Darin geht es um die Kopftuch tragende Faisa, die mit der Buslinie 678 zur Arbeit fährt und dort immer wieder von Männern begrapscht wird. Um die reiche Künstlerin Seba, die nach einem Fußballspiel von einem Mob in der Menge vergewaltigt wird. Und um die Komikerin Nelly, die als erste Frau gegen einen Mann wegen sexueller Belästigung vor Gericht zieht. Sie wehren sich und gewinnen den Machtkampf schließlich.

Selbst aus dem Zentrum der Macht kommen nur zynische Sprüche

Im wahren Leben scheint ein Sieg der ägyptischen Frauen hingegen in weiter Ferne. Als besonders bitter dürften etwa die Opfer der sogenannten "Jungfrauentests" die neue Machtkonstellation im Lande empfinden. Im März 2011 hatten Ärzte unter Androhung oder Anwendung von Gewalt an Demonstrantinnen festgestellt, ob die Frauen noch Jungfrauen waren.

Der damalige Chef des Militärgeheimdienstes verteidigte die Praxis zynisch: Die Frauen hätten gemeinsam mit jungen Männern auf dem Tahrir-Platz campiert, und damit sie nicht später sagen würden, sie seien von Militärpolizisten vergewaltigt worden, habe man eben ihre "Jungfräulichkeit" geprüft. Dieser Mann hieß Abdel Fattah al-Sisi.

Heute ist er Armeechef und der mächtigste Mann in dem Land am Nil.

(dpa)
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