Augenzeugen stellen Videos und Fotos ins Netz "Ich war nur spät dran. Ich sollte tot sein."

Berlin/Oslo · Der vermutlich von einem Rechtsextremisten verübte Massenmord an mehr als 90 Menschen in Norwegen hat dem skandinavischen Land einen schweren Schock versetzt. Die Menschen, die alles mit ansehen mussten, fluten das Internet mit Berichten, Fotos und Videos. Sie müssen das Unfassbare mitteilen, um es verarbeiten zu können.

 Der Twitter-Nutzer "finansakrobat" ist dem Anschlag in Oslo nach eigener Aussage nur zufällig entkommen.

Der Twitter-Nutzer "finansakrobat" ist dem Anschlag in Oslo nach eigener Aussage nur zufällig entkommen.

Vor einem Jahr war die Welt für Christian Aglen noch in Ordnung. Über den Internetdienst Twitvid speiste er ein Handyvideo ins Netz ein, das er mit den Worten "Relaxen am See, atme die frische Brise ein" versah.

Am Freitag aber stellte er ganz andere Amateuraufnahmen ins Netz. Sie dokumentieren die Trümmer des Bombenanschlags in Oslos. Schon mehr als 710.000 Menschen haben sich die wackeligen Bilder angesehen - denn der Mann mit der Kamera rennt. Er filmt, wie Passanten verwirrt durch das Regierungsviertel laufen, das übersät ist mit zerborstenen Fensterscheiben. Feueralarme klingeln im Hintergrund. Menschen reden entsetzt miteinander oder Schweigen sich einfach völlig fassungslos an.

Moderne Handys beflügeln Augenzeugen

Weil heute Foto- und Fernsehkameras in allen Mobiltelefonen zum Standard zählen und viele Handys zudem mit dem Internet verbunden sind, dauert es meist nur ein paar Minuten, bis sich nach Unglücken erstes Material von Augenzeugen im weltweiten Netz verbreitet. Treiber dieser Entwicklung sind soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter, in denen sich inzwischen zusammengenommen weit mehr als eine Milliarde Menschen in Echtzeit darüber austauschen, was auf der Welt passiert.

So kursierten zuletzt Szenen aus den Widerstandsbewegungen in Nordafrika im Netz und landeten schließlich auch in den klassischen TV-Programmen. Fernsehsender aus aller Welt griffen am Freitag ebenfalls zunächst auf Fotos und Videos im Netz zurück, bis sich eigene Kamerateams in das Zentrum von Oslo durchgeschlagen hatten, das teilweise abgesperrt war.

Qualm über Oslo, Schwerverletzte und Ersthelfer

Auch Aglen verlinkte seine Aufnahme in seinen Profilen bei Twitter und Facebook. Bis zum Wochenende legte der Manager einer norwegischen Finanz-Webseite nach. Seine Fotos und Filmsequenzen dokumentierten Qualm über dem Regierungsviertel, Schwerverletzte und Ersthelfer. Am Samstag, dem Tag eins nach der Tragödie, hielt er aus der Ferne die Ermittlungsarbeiten der Osloer Polizei fest. Der Internetgemeinde kündigte er an: "Später mehr Fotos." Aglen gestattete zudem allen Medien, seine Aufnahmen zu nutzen.

Vor allem über den Kurznachrichtendienst Twitter verbreiteten sich noch mehr Fotos, die die ersten Momente nach der Explosion festhielten. Auf dieser Plattform äußerten Nutzer aber auch ihr Entsetzen, ihre Wut oder aber, wie viel Glück sie am Freitag persönlich hatten - so wie der Twitter-Nutzer "Finansakrobat", der seinen echten Namen nicht preisgab. Wenige Minuten nach der Explosion notierte er: "Ich sollte bei der Explosion gewesen sein. Ich war nur spät dran. Ich sollte tot sein."

Wikipedia füllt sich bereits

Nicht einmal zwei Stunden nach der Explosion in Oslo listete am Freitag die Internet-Enzyklopädie Wikipedia bereits einen ersten Eintrag zu "2011 Oslo Explosion" auf. Internetnutzer begannen, den Eintrag in Englisch fortlaufend zu aktualisieren und neue Details zu notieren. Die Sammlung wuchs an einem Tag auf mehrere DIN-A4-Seiten an. Später setzte sich "2011 Norway Attacks" als Titel durch. Der bisher noch wesentlich kürzere deutsche Eintrag heißt "Anschläge in Norwegen 2011". Ein weiterer Eintrag sammelte zudem erste bekannte und kursierende Details zu dem mutmaßlichen Attentäter Anders Behring Breivik.

Dass die Internetgemeinde so schnell versuchte, die Ereignisse in eine Faktensammlung zu gießen, löste jedoch prompt auch Widerstand aus. In für alle sichtbaren Diskussionen der Autoren beider Einträge warnten einige davor, die Seiten zu rasch fortzuschreiben.

Zum Eintrag, der sich mit dem Attentat an sich befasste, hieß es: "Bitte hört mit diesen Gerüchten auf. Wikipedia ist nicht News." Und in der Diskussion über den Beitrag, der sich mit Anders Behring Breivik beschäftigte, riefen einige Nutzer dazu auf, den Eintrag zu löschen, "bis klare und vertrauenswürdige Informationen vorliegen".

(apd/jre/RPO)
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