Friedensnobelpreis für Menschenrechtler Eine komplizierte Ehrung – aber eine richtige

Analyse | Oslo · Das Nobelpreis-Komitee hat in diesem Jahr nicht eine einzelne Person geehrt, sondern Menschenrechtsaktivisten in der Ukraine, in Belarus und in Russland. Es macht damit Bürgerbewegungen stark und betont die Bedeutung der Aufarbeitung von Verbrechen – und es setzt ein Zeichen für komplexe Zusammenhänge.

Friedensnobelpreis: Die Preisträger seit 1990
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Die Friedensnobelpreisträger seit 1990

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Vorkämpfer für Menschenrechte, Rechtstaatlichkeit und Demokratie in Belarus, Russland und der Ukraine erhalten in diesem Jahr den Friedensnobelpreis. Und natürlich hätte das Komitee eine plakativere Entscheidung treffen können, bekannte Namen wurden ja gehandelt: Der in Russland inhaftierte Oppositionelle Alexander Nawalny hätte geehrt werden können, um den Fokus ganz auf das Unrechtsregime Wladimir Putins zu lenken. Oder Klimaaktivistin Greta Thunberg, um ein drängendes Thema hervorzuheben, das die ganze Welt bedroht, das aber gerade in Kriegszeiten verdrängt wird.

Doch das Nobelpreis-Komitee hat sich für eine kompliziertere, aber angemessene Auszeichnung entschieden – und setzt damit ganz nebenbei auch ein Zeichen gegen den Personalisierungstrend in der öffentlichen Kommunikation; ein Zeichen für komplexe Zusammenhänge.

Denn mit der Vergabe des bedeutendsten Friedenspreises der Welt an einen Menschenrechtsanwalt und zwei Organisationen in den Nachbarländern Ukraine, Belarus und Russland hat das Komitee mutige Bürger geehrt. Es zeichnet die Zivilgesellschaften in zwei Ländern aus, die von Despoten beherrscht werden – und in einem Land, das überfallen wurde und in dem Krieg herrscht.

Dahinter steht die Idee, dass Personen, die gegen Menschenrechtsverletzungen kämpfen und sich unter großen persönlichen Risiken für Demokratie und Rechtstaatlichkeit einsetzen, sich auch für Frieden engagieren. Wo Machthaber demokratische Strukturen zerstören, Aktivisten in Gefängnisse werfen und bürgerliche Freiheitsrechte aushöhlen, werde früher oder später auch der Frieden geopfert, hieß es bei der Preisverkündung in Oslo. Das Komitee hat also nicht den Affront gesucht, nicht nur ein Zeichen gegen Putin gesetzt – sondern gegen alle Herrscher seines Schlages, die ihre Bürger unterdrücken, um ihre Verbrechen ungehindert begehen zu können.

Eine konfrontative Ansage in Richtung Kreml beinhaltet die aktuelle Nobelpreisvergabe indes auch. Denn es wurde nicht irgendeine Menschenrechtsorganisation in Russland ausgezeichnet, sondern die erst vor knapp einem Jahr von Putin verbotene Gruppe „Memorial“. Diese Initiative wurde 1987 gegründet, um an die Opfer stalinistischer Gewalt zu erinnern. Seither entwickelte sie sich zur wichtigsten Organisation zur Verteidigung von Menschenrechten und zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen in Russland.

Der Friedensnobelpreis für „Memorial“ ist ein deutlicher Einspruch gegen das Handeln Putins, der sich bürgerliches Engagement dieser Art mit einem Federstrich vom Hals schafft. Es ist auch ein Signal für die Bedeutung der Aufarbeitung von Verbrechen. An historische Taten zu erinnern, erlittenes Unrecht zu dokumentieren und akribisch zu benennen, wer die Täter waren und sind, ist das einzige Mittel, gegen Geschichtsverdrehungen vorzugehen, wie sie etwa Wladimir Putin und die rechten Ideologen hinter ihm betreiben. Es ist auch die Mahnung, dass Verbrecher irgendwann zur Rechenschaft gezogen werden, selbst wenn darüber Jahrzehnte vergehen.

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Das sind die Nobelpreisträger 2023

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Das alles in einen Preis zu fassen, ist schwierig. Auf die Frage, wer 2022 den Friedensnobelpreis bekommen hat, gibt es keine griffige Antwort - keine, die so im Gedächtnis bleibt wie ein Name: Obama, Mutter Teresa, Lech Walesa, Michail Gorbatschow oder seinerzeit Willy Brandt. Man kann auch kritisieren, dass das Komitee die Chance verpasst hat, den Frauen und Bürgerrechtsaktivisten im Iran zur Seite zu springen. Dass die Massenproteste dort gerade eine historische Chance geboten haben, die ein etwas flexibleres Gremium vielleicht ergriffen hätte. Und natürlich kann man einwenden, dass das Komitee eine Festlegung gescheut hat, eine Zuspitzung auf eine Person. Und damit auch das Risiko, nicht zu wissen, wie eine Persönlichkeit sich entwickelt, wie gerade auch die Kämpfe, denen sich Friedensaktivisten stellen, zurückwirken und Menschen verändern. Auch damit hat der Nobelpreis schon Erfahrungen machen müssen.

Doch sollte man dem Komitee zugute halten, dass es den Blick auf eine Krisenregion gelenkt hat, in der auf vielfältige Weise um Frieden und Freiheit gerungen wird. Unter größten Opfern. Und diese Opfer tragen eben nicht nur Einzelne, sondern auch die Gesellschaften, die sich auf den mühsamen Kampf um Freiheitsrechte einlassen. Diesen Bürgern, die für etwas einstehen, das zunächst nur ein abstraktes Ziel ist, ist in diesem Jahr höchste Anerkennung ausgesprochen worden. Das ist auch ein Signal an all jene, die sich in Frieden und Freiheit eingerichtet haben und in krisenhaften Zeiten vielleicht aus dem Blick verlieren, was das wert ist.

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