Nach tödlicher Tragödie im Ärmelkanal Spannungen zwischen Paris und London verschärfen sich

Paris/London · 27 Migranten sind bei einer Überfahrt ums Leben gekommen. Das Problem hat sich 2021 zugespitzt – entsprechend gereizt reagieren London und Paris.

 Ein Schlauchboot des britischen Grenzschutzes transportiert eine Gruppe von mutmaßlichen Migranten (Symbolfoto).

Ein Schlauchboot des britischen Grenzschutzes transportiert eine Gruppe von mutmaßlichen Migranten (Symbolfoto).

Foto: dpa/Gareth Fuller

Es war die bisher schlimmste Flüchtlingstragödie im Ärmelkanal: 27 Menschen – darunter fünf Frauen, eine von ihnen schwanger, sowie ein Kind – ertranken am Mittwoch beim Versuch, von Calais per Schlauchboot nach Großbritannien zu gelangen. Zwei Menschen waren noch in kritischem Zustand im Krankenhaus. Die französische Polizei nahm fünf Schlepper fest; einer soll aus Deutschland kommen.

Die Katastrophe hat zum einen große Betroffenheit auf beiden Seiten des Kanals ausgelöst und zum anderen zu gegenseitigen Schuldzuweisungen geführt. Der britische Premierminister Boris Johnson sprach noch in der Nacht mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Die beiden Regierungschefs machten Schlepper­banden für das Unglück verantwortlich. Macron sprach von einer „geteilten Verantwortung“, während Johnson gemeinsame britisch-französische Patrouillen an der nordfranzösischen Küste einforderte. Er sagte auch, dass die Schleppergangs „mit Mord davonkommen“, weil die Kontrollen der französischen Polizei „nicht genug“ seien.

Die Flüchtlingskrise im Ärmelkanal hat sich 2021 dramatisch zugespitzt. Während im vergangenen Jahr 8420 Asylsuchende die Überfahrt über eine der meistbefahrenen Schifffahrtstraßen der Welt wagten, waren es in diesem Jahr bis jetzt schon fast 26.000 Personen, also mehr als dreimal so viel. Die französische Sportartikelkette Decathlon musste bereits den Verkauf ihrer aufblasbaren Kajaks an der Kanalküste stoppen, um nicht noch mehr Menschen zu der waghalsigen Flucht zu verleiten.

In Großbritannien hat sich das Thema immer mehr aufgeladen: Je mehr Bootsflüchtlinge an südenglischen Stränden ankamen, desto empörter reagierten Massenblätter, und desto größer wurde der Druck auf Innenministerin Priti Patel. Sie hatte dereinst im Brexit-Wahlkampf damit geworben, dass der Austritt aus der EU dem Land „die Kon­trolle über seine Grenzen zurückgeben“ werde. Patel musste jedoch feststellen, dass Großbritannien gerade aufgrund des Brexit nicht mehr die Dublin-Vereinbarung der EU in Anspruch nehmen und Flüchtlinge in das sichere Drittland zurückschicken kann, aus dem sie kamen.

Im Juli unterzeichnete Patel eine Vereinbarung mit der französischen Regierung: Großbritannien zahlt seinem Nachbarn 54 Millionen Pfund, umgerechnet rund 63 Millionen Euro, damit Frankreich die Anstrengungen intensiviert, um Migranten an der Überfahrt zu hindern. Die Zahl der Grenzbeamten soll auf 200 verdoppelt, Patrouillen sollen verschärft und neues Überwachungsgerät angeschafft werden. Das führte damals zu Protesten von konservativen Boulevardblättern und Kollegen Patels aus der Regierungsfraktion, da das Innenministerium schon im November 2020 den französischen Behörden 32 Millionen Euro überwiesen hatte, ohne dass es zu einer wesentlichen Reduzierung der Zahl der Überfahrten kam. „Wir werfen gutes Geld Schlechtem hinterher“, wetterte der konservative Abgeordnete Peter Bone.

In Calais, auf der französischen Seite der Meerenge, führte das Elend der Migranten im Oktober sogar zu einem Hungerstreik von Aktivisten. Am Los der Geflüchteten änderte der allerdings nichts. Alle zwei Tage würden sie weiterhin von der Polizei aus ihren Zelten vertrieben, die ihnen ihr armseliges Hab und Gut wegnehme, berichteten Helfer.

1350 solcher Aktionen innerhalb eines Jahres zählte das Beobachtungszentrum für Vertreibungen – drei Viertel davon im Gebiet um Calais und die 40 Kilometer entfernte Stadt Grande-Synthe. Die Regierung will damit verhindern, dass sich in der ohnehin überforderten Region neue Lager bilden.

Allerdings kommt ein vergangene Woche veröffentlichter Parlamentsbericht zu dem Schluss, dass Zwangsevakuierungen die Geflüchteten nicht abschrecken. Die Parlamentarier, die sich ein halbes Jahr lang mit den Lebensbedingungen der Migrantinnen und Migranten beschäftigt haben, fällen ein hartes Urteil über die Flüchtlingspolitik der Regierung. „Die Situation der Menschenrechte der Migranten und ihre Lebensbedingungen in Frankreich sind alarmierend“, heißt es in dem Dokument. Auf die Geflüchteten werde eine wahre Treibjagd veranstaltet, „nicht um Wildschweine zu jagen, sondern Menschen wie uns“.

Frankreich/England: Tod im Ärmelkanal - Spannungen verschärfen sich
Foto: grafik

Vor fünf Jahren ließ der sozialistische Innenminister Bernard Caze­neuve den „Dschungel“ räumen, ein wildes Lager bei Calais, in dem bis zu 10.000 Menschen lebten. Mit Bussen wurden die Geflüchteten in andere Unterkünfte überall im Land gebracht. Doch Calais und Grande-Synthe haben dadurch nichts von ihrer Anziehungskraft verloren.

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