Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet Eine Katastrophe von biblischen Ausmaßen

Ankara · Das schwerste Erdbeben im östlichen Mittelmeerraum seit hundert Jahren hat Teile der Südost-Türkei und Nord-Syriens zerstört. Die schwersten Schäden betreffen einen Abschnitt von mehr als 330 Kilometern Länge. Mehr als 17.000 Menschen verloren ihr Leben.

Türkei/Syrien: Schweres Erdbeben - Tausende Tote
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Schweres Erdbeben erschüttert Türkei und Syrien

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Foto: dpa/Anas Alkharboutli

„Helft uns bitte, holt uns hier raus“, schreit ein Mann in einem Trümmerhaufen in Kahramanmaras; seine Handy-Kamera zeigt einen zerquetschten Bürostuhl und ein verrenktes Bein in einem engen Hohlraum unter den Trümmern. „Wir bluten, und einer meiner Kollegen macht keinen Mucks mehr“, ruft der Mann und gibt die Adresse des eingestürzten Hauses und die Namen der drei Verschütteten durch.

Wenige Stunden zuvor hatte das schwerste Erdbeben im östlichen Mittelmeerraum seit 100 Jahren große Teile der Südost-Türkei und Nord-Syriens zerstört. Allein in der Türkei stürzten nach dem Beben der Stärke von bis zu 7,8 in der Nacht zu Montag (6. Februar) mehr als 5000 Wohngebäude in Städten und Dörfern entlang der syrischen Grenze ein. Millionen Menschen leben im türkisch-syrischen Katastrophengebiet, mehr als 17.000 wurden tot geborgen, doch die Opferzahl dürfte noch weiter steigen, zumal die Erde weiter bebte: Kurz nach Mittag erschütterte am Montag ein weiterer Erdstoß der Stärke 7,7 die Region. Die Versorgung der Überlebenden mitten im Winter wird schwierig, besonders in den syrischen Flüchtlingslagern und kriegszerstörten Städten wie Aleppo.

Hilferufe wie der Handy-Appell aus Kahramanmaras fluteten am Montag die sozialen Medien in der Türkei, wo Tausende Menschen um Rettungstrupps flehten – manche von ihnen live aus den Trümmern. „Hört uns jemand?“, keuchte ein Student in Kahramanmaras zu wackeligen Bildern aus einer Lücke zwischen eingesackten Wänden, die er auf Instagram stellte. „Meine Mutter und ich sind im siebten Stockwerk eingeschlossen, und jetzt läuft Wasser herein.“ Verzweifelte Angehörige schickten Hunderte Adressen und Anfahrtsskizzen von Einsturzstellen auf Twitter, um Bergungstrupps anzufordern.

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Foto: dpa/Anas Alkharboutli

Das erste Beben kurz nach 4 Uhr Ortszeit (2 Uhr MEZ) hatte nach Angaben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan eine Stärke von 7,7, nach US-Angaben waren es sogar 7,8. Um 13.24 Uhr Ortszeit (11.24 Uhr MEZ) folgte das neue Beben von 7,7, das weitere Gebäude einstürzen ließ. Dazu hielten den ganzen Tag über größere und kleinere Nachbeben an. Mancherorts mussten die Rettungsarbeiten unterbrochen werden. Ein Parlamentsabgeordneter berichtete, in der Stadt Malatya seien mehrere Helfer bei dem zweiten schweren Beben verschüttet worden.

Die Beben vom Montag waren stärker als das Beben, bei dem im Jahr 1999 in der Nähe von Istanbul etwa 20.000 Menschen starben. Im Jahr 1939 kamen im nordostanatolischen Erzincan mehr als 30.000 Menschen bei einem Beben der Stärke 7,8 ums Leben. Für Syrien war der Erdstoß vom Montag das schwerste Beben seit den 1920er-Jahren. Nach Angaben des türkischen Katastrophenschutzamtes starben am Montag allein in der Türkei mindestens 2021 Menschen. Die syrische Regierung meldete mindestens 656 Tote und etwa 1400 Verletzte in den von ihr kontrollierten Gebieten des Bürgerkriegslandes; mindestens 450 Menschen kamen in syrischen Rebellengebieten ums Leben, dort gab es mehrere hundert Verletzte.

Das Epizentrum befand sich unter der Kreisstadt Pazarcik, die etwa 20 Kilometer östlich von Kahramanmaras und etwa 90 Kilometer nördlich der syrischen Grenze liegt. Luftbilder aus Pazarcik zeigten großflächige Zerstörungen in Wohngebieten. Der Rettungsarbeiter Suat Yenipinar in Pazarcik sagte der Nachrichtenplattform Duvar: „Es gibt kaum ein Haus in Pazarcik mehr, das noch steht. Wie viele Gebäude hier eingestürzt sind, kann ich nicht zählen – ich könnte nur zählen, wie viele noch stehen.“

Nach Angaben des türkischen Katastrophenschutzamtes entlud sich die tektonische Spannung beim ersten Beben am Montagmorgen nur sieben Kilometer unter der Erdoberfläche – bei solchen flachen Beben sind die Schäden häufig größer als bei Erschütterungen tiefer im Erdinnern. Bis zum Nachmittag konnten noch nicht alle Teile des Unglücksgebietes erreicht werden. In der Millionenstadt Gaziantep wurde die 1500 Jahre alte Stadtfestung schwer beschädigt.

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Foto: dpa/Ghaith Alsayed

Überall im türkischen Katastrophengebiet gruben sich Helfer auf der Suche nach Opfern durch Betonplatten und Baustahl. Erdogan sagte, neben zivilen Helfern seien auch Einheiten der Armee im Rettungseinsatz. Insgesamt suchten 9000 Helfer nach Überlebenden; Zehntausende Zelte und Feldbetten sowie mehr als 1000 Feldküchen wurden nach Angaben des türkischen Katastrophenschutzes bis zum frühen Abend ins Unglücksgebiet gebracht.

Die Behörden riefen die Menschen im Unglücksgebieten auf, trotz des schlechten Wetters – in Kahramanmaras regnete es bei sechs Grad – nicht in zerstörte Häuser zurückzukehren. Moscheen in der Region wurden als Schutzräume für Menschen geöffnet, die bei Temperaturen um den Gefrierpunkt nicht in ihre beschädigten Häuser zurückkehren konnten. Der Flughafen in Hatay am Mittelmeer musste wegen schwerer Schäden geschlossen werden, andere Flughäfen in der Region wurden für zivile Flüge gesperrt, um sie für die Ankunft von Helfern und Hilfsgütern freizuhalten.

Trotz des schweren Bebens blieb die Kommunikationsinfrastruktur im türkischen Unglücksgebiet weitgehend unzerstört. Die türkischen Behörden versuchten deshalb, moderne Kommunikationswege für die Rettungsarbeiten einzusetzen. Mobilfunknetze und Internet konnten im Katastrophengebiet kostenlos benutzt werden; das türkische Katastrophenschutzamt veröffentlichte ein Onlineformular, mit dem Betroffene staatliche Hilfe anfordern können. Nach dem Beben nahe Istanbul von 1999 war die staatliche Hilfsaktion für die Opfer erst mit mehreren Tagen Verspätung angelaufen, was viele Menschen das Leben kostete.

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Trauer, Leid und Zerstörung in türkisch-syrischem Grenzgebiet

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Foto: dpa/Khalil Hamra

Auf der türkischen Seite der Grenze bebte die Erde von Adana am Mittelmeer im Westen bis nach Hakkari im äußersten Südosten der Türkei am Dreiländereck mit dem Irak und dem Iran. Insgesamt leben in der Region mehr als 15 Millionen Menschen, das sind knapp 20 Prozent der türkischen Bevölkerung. Einige Städte im Erdbebengebiet beherbergen zudem Hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien.

In den betroffenen Gegenden von Syrien leben nach zwölf Jahren Krieg zwar weniger Menschen als auf der türkischen Seite der Grenze, doch leiden sie schon in normalen Zeiten unter Versorgungsmängeln. Der Syrien-Experte Charles Lister vom Nahost-Institut in Washington schrieb auf Twitter, in der Wirtschaftsmetropole Aleppo, die zum Herrschaftsgebiet der syrischen Regierung gehört, seien zwei Drittel der Infrastruktur schon vor dem Erdbeben zerstört gewesen. Videos aus Aleppo vom Montag zeigten, wie Gebäude zusammenbrachen.

Ähnlich sah es in den Gegenden entlang der türkischen Grenze aus, die von Regierungsgegnern kontrolliert werden. Ein Sprecher der Hilfsorganisation „Weißhelme“ meldete sich am Morgen per Video aus dem Rebellengebiet im Nordwesten Syriens. Hinter ihm war eine Straße zu sehen, an der alle Häuser zerstört waren. Die „Weißhelme“ helfen normalerweise nach Luftangriffen der Syrer oder Russen. Am Montag waren sie im kalten Winterregen nach dem Erdbeben im Einsatz. „Hunderte Menschen sind tot, vielleicht Tausende verletzt“, sagte der Helfer mit brechender Stimme. „Viele Familie sind noch unter den Trümmern begraben. Wir brauchen Hilfe.“

In der Rebellenprovinz Idlib, in der drei Millionen Menschen Zuflucht vor der syrischen Regierungsarmee gefunden haben, und anderen Teilen Nord-Syriens wohnten viele Menschen bisher in Zelten, in halb fertigen Häusern oder in den Ruinen zerstörter Gebäude. Viele Unterkünfte hielten dem Beben nicht stand. „Unsere Gesundheitsstationen sind voll mit Verletzten und den Leichen der Todesopfer“, sagte Fadi al-Dairi von der Hilfsorganisation Hihfad unserer Zeitung. Im Norden Syriens hoben Anwohner einem Augenzeugenbericht zufolge Massengräber aus. Menschen wollen darin die Opfer der Katastrophe beisetzen, berichtete ein Aktivist der Deutschen Presse-Agentur.

Syrische Zivilisten und Mitglieder der Weißhelme arbeiten in den Ruinen in Idlib, um Verschüttete zu retten.

Syrische Zivilisten und Mitglieder der Weißhelme arbeiten in den Ruinen in Idlib, um Verschüttete zu retten.

Foto: dpa/Anas Alkharboutli

Deutschland und mehr als 40 andere Staaten boten der Türkei und Syrien ihre Hilfe an; darunter waren Griechenland und Armenien, deren Beziehungen mit Ankara angespannt sind. Die EU mobilisierte zehn Rettungsteams. Auch die Kriegsgegner Ukraine und Russland erklärten, sie seien zur Entsendung von Hilfe nach der Naturkatastrophe bereit.

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