Tourismus in der Ukraine So verlaufen Kaffeefahrten nach Tschernobyl

Tschernobyl · Man kann es kaum glauben, aber mehr als 30 Jahre nach dem Reaktorunglück in der Ukraine ist die Sperrzone rund um das Akw Tschernobyl zum skurrilen Ausflugsziel geworden.

Eine Kaffeefahrt nach Tschernobyl - Reise in die Ukraine
Foto: dpa, EPA/EBRD PHOTOSTREAM

Enthusiastisch hält Fremdenführerin Tatjana vor der Abreise in Kiew ihren Geigerzähler in die Luft. "0,16 Mikrosievert. Alles im grünen Bereich", ruft sie den Touristen entgegen. Eine Szene, die sich im Laufe des Tages häufig wiederholen wird. Immer wieder wirft Tatjana mit Strahlungswerten um sich, die weder die Mitreisenden und vielleicht noch nicht einmal sie selbst so richtig einordnen können. Der Grund dafür liegt im außergewöhnlichen Reiseziel der Gruppe: der Reaktor von Tschernobyl.

Am 26. April 1986 ereignete sich hier ein Unglück, das Tausende Menschenleben kostete und große Gebiete in der Ukraine und Weißrussland bis heute unbewohnbar machte. Gut 30 Jahre später ist der Ort zum Ziel abenteuerlustiger Touristen geworden. Etliche Agenturen bieten von Kiew aus ein- bis zweitägige Touren durch das Sperrgebiet rund um den zerstörten Reaktor an.

Eine dieser Reisetouren wird von der Ukrainerin Tatjana geleitet. Mit ihren großen Stiefeln und einem Bandana in Tarnfarbe auf dem Kopf wirkt sie wie eine Guerillakämpferin. Auf ihrem T-Shirt prangt dagegen "Hard Rock Café Chernobyl", wie man es sonst nur als Souvenir von Städtetrips nach Rom oder London kennt. Ihre Reisegruppe ist bunt gemischt. Während etwa der Engländer Robert darauf brennt, den Reaktor zu sehen, sind andere Teilnehmer wie die Italienerin Giulia eher am menschlichen Schicksal der Katastrophenopfer interessiert.

Besuch der „Brücke des Todes“

Deren Schicksal ist bei der Besichtigung der verlassenen Dörfer in der Sperrzone rund um das verwüstete Kraftwerk allgegenwärtig. So finden Giulia und die übrigen Teilnehmer in den Räumen eines ehemaligen Kindergartens noch einige Puppen und Kinderbücher. Auch der Halt auf einer zunächst unscheinbar wirkenden schmalen Brücke in Nähe des Reaktors, der sogenannten "Brücke des Todes", beeindruckt die Touristen. Viele Bewohner hörten damals den lauten Knall des Explosion und liefen auf diese Brücke, um eine bessere Sicht auf die Geschehnisse im Reaktor zu haben. Eine Neugier, die laut Tatjana viele mit dem Leben bezahlten, da sie dort stärker von der freigesetzten Strahlung kontaminiert worden seien. "Eine schreckliche Vorstellung", sagt Giulia.

Wie viele Menschen infolge des Unglücks starben, lässt sich bis heute nicht genau beziffern. Denn viele Opfer starben nicht sofort, sondern erst Jahre nach der Katastrophe an den Spätfolgen der Strahlung. Gewiss ist dagegen die Tatsache, dass die Zahl der Opfer geringer ausgefallen wäre, wenn die sowjetische Führung schneller gehandelt hätte. Tschernobyl ist deshalb auch ein Schauplatz politischen Versagens. Erst 30 Stunden nach dem Unglück begann die Regierung mit Evakuierungsmaßnahmen in den betroffenen Städten. Zunächst noch in dem Glauben, die Bewohner könnten später wieder in die kontaminierten Gebiete zurückkehren.

Das lag aber auch daran, dass das Gebiet um Tschernobyl für die Sowjetunion von großer strategischer Bedeutung war. Unweit des Reaktors befand sich unter dem Namen Tschernobyl-2 eine geheime Siedlung. Auf offiziellen Karten wurde sie als Ferienlager für Kinder ausgegeben. In Wirklichkeit befand sich dort die mehr als 100 Meter hohe und breite Radaranlage Duga-1. Sie diente den Sowjets, um einen möglichen Nuklearangriff der USA rechtzeitig erkennen zu können.

Schuhe ausklopfen, um radioaktiven Staub zu vermeiden

Zwischen all diesen Eindrücken zeigt die Tour jedoch immer wieder ihre absurden Züge. Nach jedem Halt müssen die Teilnehmer auf dem Weg zurück in den Bus ihre Schuhe ausklopfen, um keinen radioaktiven Staub in den Innenraum zu tragen. Und überall lauern zutrauliche Straßenhunde, die sich in Gewöhnung an den Tourismus ausschließlich von Kartoffelchips und anderem Proviant der Besucher zu ernähren scheinen. Der Höhepunkt in dieser Hinsicht ist jedoch der Besuch in der Stadt Tschernobyl.

Zur Überraschung vieler Touristen ist diese wieder bewohnt, da die Strahlenbelastung in der Atmosphäre vor Ort mittlerweile wieder relativ gering ist. Die Bewohner sind größtenteils Arbeiter, die unter anderem die Hauptstraße zum Reaktor instandhalten, damit dieser in Notfällen schnell erreicht werden kann. Aber auch der Fremdenverkehr hat mittlerweile Arbeitsplätze in der Stadt geschaffen. Im Ortskern befindet sich ein kleines Hotel mit angeschlossenem Restaurant, wo Tatjanas Reisegruppe ein Mittagessen serviert wird. Auf dem Menü stehen Schnitzel und Kartoffeln. Eine Szene, die man sich auch auf einer Wanderung durch das Allgäu oder die Eifel vorstellen könnte und nicht ausgerechnet 15 Kilometer vom Ort der größten Reaktorkatastrophe entfernt. Abenteuer-Tourist Robert nutzt diese Pause, um den übrigen Reisenden seine Passion für den Reaktor näherzubringen: "Wusstet ihr, dass die Explosion damals sogar das 1000 Tonnen schwere Dach vom Reaktor gestoßen hat?", fragt er begeistert in die Runde. Dementsprechend gespannt ist er, den Ort im Anschluss an das Essen endlich besichtigen zu dürfen.

Vom Reaktor selbst ist wenig zu sehen

Zu seiner Enttäuschung ist der Besuch des Reaktors jedoch vergleichsweise unspektakulär. Außer dem 2016 fertiggestellten Sarkophag, der ihn zum Schutz vor Strahlung umhüllt, ist nicht viel zu sehen. Auch Tatjanas Geigerzähler vermeldet nur geringe Strahlungswerte. Anders sieht es dagegen in der Stadt Prypjat aus. Mit einer Entfernung von nur vier Kilometern zum Unglücksort wurde sie zum Zentrum der Katastrophe. Zu ihrer Blütezeit hatte Prypjat einen für sowjetische Verhältnisse hohen Lebensstandard, der sich heute jedoch nur noch erahnen lässt. In der verlassenen Stadt zeigt sich, wie Straßen und Gebäude ohne ihre Bewohner langsam verfallen. Fassaden bröckeln, Fensterscheiben sind zerstört. Stück für Stück holt sich die Natur ehemalige Straßen und Plätze zurück. Wegen Einsturzgefahr ist ein Betreten der Gebäude streng verboten. Tatjana lässt sich davon jedoch nicht aufhalten. "Passt auf, dass uns die Sicherheitskräfte nicht erwischen", sagt sie, während sie über einen Haufen von Trümmern klettert.

Stille in Prypjat

Was in Prypjat auffällt, ist diese Stille. Nur Vögel zwitschern, der Wind weht leicht durch die Äste der Bäume. "Prypjat wirkt unglaublich friedlich", stellt Giulia erstaunt fest. Ein Frieden, der jedoch nur von kurzer Dauer ist. Denn zusammen mit Robert und einigen anderen Teilnehmern schlendert Tatjana mit ihrem Geigerzähler durch die verlassenen Straßen. Zur Freude von Robert schlägt das Gerät endlich kräftig aus. "Zehn Mikrosievert, 20 Mikrosievert!", ruft Tatjana in zunehmender Erregung immer höhere Werte, während Robert und die übrigen Touristen ihr dicht auf den Fersen bleiben. "Wow, das ist krass", stellt Robert mit weit geöffnetem Mund fest.

Am Ende der Tour wartet auf die Gruppe noch ein besonderer Halt: die Strahlenkontrolle, die jeder Teilnehmer passieren muss. Sollte ein Kleidungsstück durch radioaktiven Staub kontaminiert worden sein, muss es mit einer Bürste gereinigt werden. Hilft auch das nicht, muss es ausgezogen und zurückgelassen werden. "Eine Frau musste einmal ohne Hose nach Hause", erzählt Tatjana lachend. Als sie daraufhin beunruhigte Blicke aus ihrer Gruppe erntet, versucht sie schnell zu beruhigen: "Das war aber nur eine Ausnahme." Doch die Teilnehmer haben Glück und dürfen ihre Hosen und Mäntel behalten.

Auf dem Rückweg nach Kiew zeigt Tatjana im Bus noch ein kurzes Video. Es zeigt Aufnahmen aus Prypjat aus der Zeit vor dem Unglück. Zu sehen sind spielende Kinder und feiernde Menschen. Alle vor den Gebäuden, deren verlassene Ruinen die Gruppe eben gerade erst besichtigt hat. Und plötzlich bekommt die Katastrophe ein Gesicht. Ein Moment, in dem selbst passionierte Katastrophentouristen wie Robert kurz innehalten. Für alle im Bus ist zu spüren, was zuvor irgendwie abstrakt geblieben war: all das menschliche Leid, das das Reaktorunglück verursacht hat.

(RP)
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