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Keine Noten, keine Stunden, kein Direktor Die verspielteste Schule Amerikas

Upper Marlboro (RP). Keine Unterrichtsstunden, keine Zensuren, keine Klassenzimmer: Die Fairhaven School bei Washington wagt eine radikale Alternative. Das herkömmliche Schulmodell, sagt Mark McCaig, ein Direktor, der sich nicht Direktor nennen will, sei fürs Gestern gemacht. Seine Schüler bestimmen selbst, wie sie lernen und was sie lernen. Und das klappt – meistens.

 Ungewöhnliches Schulgebäude: Das große Blockhaus der Fairhaven School. RP, Frank Hermann

Ungewöhnliches Schulgebäude: Das große Blockhaus der Fairhaven School. RP, Frank Hermann

Foto: RP, Frank Herrmann

Upper Marlboro (RP). Keine Unterrichtsstunden, keine Zensuren, keine Klassenzimmer: Die Fairhaven School bei Washington wagt eine radikale Alternative. Das herkömmliche Schulmodell, sagt Mark McCaig, ein Direktor, der sich nicht Direktor nennen will, sei fürs Gestern gemacht. Seine Schüler bestimmen selbst, wie sie lernen und was sie lernen. Und das klappt — meistens.

 Mark McCaig gründete die Schule. Ihre Absolventen sind an den Universitäten gerne gesehen.

Mark McCaig gründete die Schule. Ihre Absolventen sind an den Universitäten gerne gesehen.

Foto: RP, Frank Hermann

Logan Scannell hat ein Problem. "Wir haben alles probiert", sagt Sharon Markowich, seine Tante. "Er kommt einfach nicht zurecht mit diesen strikten Strukturen, diesem Auswendigpauken von Zeugs, das er nicht versteht." Die traditionelle Schule, hat auch Marilyn Scannell erkannt, Logans erziehende Großmutter, ist nichts für ihren Enkel. Er lernt schnell, spielt gern Saxofon, ist klug und aufgeweckt. Nur eben kein Muster an Disziplin, ein ganz normaler 15-Jähriger in einer ganz normal schwierigen Phase.

Genug von drakonischer Härte

Das mit der Disziplin hat man Logan auf drastische Art beizubringen versucht. Von einer katholischen wechselte er auf eine halbmilitärische Schule, deren Absolventen später zur Luftwaffe gehen. Manchmal kam er zu spät zur Messe in der Kapelle, wofür er streng bestraft wurde, mit endlosem Marschieren im Kreis und Arrest in der Einzelzelle. Die Oma, Logans Vormund, hat genug von drakonischer Härte. Sie ist bereit, die radikale Alternative zu wagen. Der Junge sowieso.

Die Alternative, das ist die Fairhaven School. Romantisch wie ein Waldhotel liegt sie zwischen hohen Pappeln, in einer Schlucht rauscht ein Bach, ein Paradies vor den Toren von Washington. Gitarrenklänge erklingen, im Computer-Kabinett spielen sie Videospiele, am liebsten "Dungeons and Dragons" (Verliese und Drachen). Es gibt keine Unterrichtsstunden, keine Zensuren, keine Klassenzimmer, dafür kleine Nischen zum Lernen, in denen Tische und Stühle ebenso stehen wie bequeme Sofas. Schon ein kurzer Rundgang lässt spüren, was für ein gelassenes Selbstbewusstsein die Schüler haben, eine völlig ungezwungene Art, Ältere um Rat zu fragen.

Staubsaugen und Fensterputzen

"Aber glauben Sie nicht, dass wir keine Regeln kennen", sagt Mark McCaig. Wer Popcorn verstreut und das Aufkehren vergisst, wird zu einem "Ästhetik-Job" verdonnert, Staubsaugen oder Fensterputzen, je nachdem. Wer rennt, wo man nicht rennen darf, wer raucht oder andere schubst, fliegt von der Schule, meist für einen Tag. Wer stiehlt, muss für immer gehen, es sei denn, er kann die anderen überzeugen, dass der Vertrauensbruch ein einmaliger Ausrutscher war.

Täglich tagt der Rechtsausschuss, das Herzstück Fairhavens, stundenlang wird debattiert. Ein Aushang skizziert, was dort demnächst auf der Agenda steht: Gavin hat ein Fossil im Bach gefunden, darf er es behalten? Einmal in der Woche treffen sich alle, 70 Schüler und sechs Lehrer, zur großen Versammlung. Jeder hat eine Stimme, der fünfjährige Neuzugang ebenso wie der Schulgründer. Lehrer werden auf zwölf Monate angestellt, danach bestimmt das Kollektiv, ob sie bleiben dürfen. Und die 8000 Dollar, die Eltern pro Spross fürs Jahr berappen müssen, klingen für amerikanische Verhältnisse bescheiden: An den teuersten US-Privatschulen ist locker das Dreifache fällig.

Rustikale Blockhüttte

McCaig, ein bärtiger Hüne, hat Fairhaven vor zwölf Jahren ins Leben gerufen, gemeinsam mit Kim, seiner Gattin. Er hat selber mitgezimmert am ersten Gebäude, einer rustikalen Blockhütte. Pate stand die Sudbury Valley School in der Nähe von Boston, 1968 gegründet von Daniel Greenberg, einem Physiker, der den Leitspruch prägte: "Wir beginnen mit der Freiheit, persönlicher Freiheit und Respekt für individuelle Rechte". Ein Motto, das inzwischen rund um die Welt Anhänger gefunden hat. In Deutschland hält seit 2007 die "Neue Schule Hamburg" die Fahne der Sudbury Bewegung hoch. Treibende Kraft bei der deutschen Gründung war übrigens die Popsängerin Nena.

In Fairhaven standen keine Stars an der Wiege der neuen Schule. In McCaigs launiger Kurzbiografie steht, dass er viel über Vögel und Haifischzähne weiß. Ausgestattet mit einem Harvard-Diplom, unterrichtete er lange an normalen Schulen. Den Ausschlag für den Bruch mit der herkömmlichen Pädagogik gab die Erfahrung in der eigenen Familie. Ein Neffe, hochintelligent und dabei hyperaktiv, wurde mit Tabletten vollgestopft, um sich im Klassenzimmer konzentrieren zu können. "Völlig verrückt."

Schüler wollten kreatives Schreiben

Am Treppengeländer kündigt ein DIN-A-4-Blatt einen Kurs an, kreatives Schreiben. Die Initiative ging von Schülern aus, die fanden, dass sie nun genug am Computer gespielt hatten und endlich lernen müssten, wie man gute Aufsätze schreibt. McCaig vermittelt es ihnen, wer will, kann mitmachen. Die Schüler kommen aus ganz verschiedenen Altersstufen. Seine Philosophie beginnt bei Aristoteles. "Menschen streben von Natur aus nach Wissen", zitiert er den antiken Griechen.

Menschen lernen am besten, wenn sie allein entscheiden, was sie lernen, lautet die Sudbury-Maxime. Und: Spielen ist die erste Lernmethode. Wer spielt, wird klüger. Wozu also Kindern Formeln eintrichtern, die sie bald wieder vergessen? Der herkömmliche Schulbetrieb, gibt McCaig zu bedenken, sei für die Ökonomie der Fabrik gemacht. "Was wir heute ansteuern, ist die kreative Ökonomie. Schnelles Reagieren, flexible Karrieren. Wer arbeitet denn heute noch in einer Fabrik?"

Beliebt an den Universitäten

Fairhaven-Schüler, weiß McCaig aus Erfahrung, werden gern genommen an den Universitäten: Aufnahmetests und Gespräche ersetzen das formale Zeugnis. Dennoch, es gibt auch welche, die Fairhaven vorzeitig verlassen, und sei es auch nur, weil sie in einer guten Schulmannschaft Basketball spielen wollen. Es gibt Eltern, die irgendwann die Angst packt, dass sich ihr Kind seine Zukunft vermasselt. Es gibt gute Nachrichten von Ehemaligen. Einer schreibt einen Roman, ein Zweiter ist Skateboard-Profi, eine Dritte betreibt eine Galerie, nachdem sie in Chicago Kunst studiert hat.

Aryeh Grossman, schwarzer Hut, karibisch buntes Hemd, ist ein unverwechselbarer Typ. Ab der Mittelstufe kam er nicht mehr klar mit dem Druck einer traditionellen Lehranstalt. Heute, mit 16 Jahren, sagt er, dass er endlich er selbst sein kann. Bevor er nächstes Jahr seinen Abschluss macht, muss er aufschreiben, wie er sich sein Leben vorstellt, beruflich und privat. Seine Freunde werden kritisch nachfragen. Aryeh wird sein Konzept verteidigen müssen, vielleicht auch manches korrigieren — das alles im großen Kreis.

(RP)
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