Essay Die Freiheit braucht Provokationen

Düsseldorf · Haben die Karikaturisten von "Charlie Hebdo" den Bogen überspannt? Haben sie das blutige Verbrechen etwa selbst heraufbeschworen? Unfug! Die Provokation ist eines der markantesten Merkmale freiheitlicher Gesellschaften. Wo sie fehlt, herrscht Zensur. Wollen wir das?

Essay: Die Freiheit braucht Provokationen
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Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Provokationen. Sie sind seit jeher der Treibstoff für Veränderungen. Jesus von Nazareth, einer der erfolgreichsten Provokateure überhaupt, leistet sich die Frechheit, alle bis dato geltenden Vorstellungen von Religion auf den Kopf zu stellen. Seinen Mitmenschen mutete er Ungeheuerlichkeiten zu wie jene, sie sollten ihre Feinde lieben.

Oder Martin Luther: Ob der wortgewaltige Reformer seine 95 Thesen wider den Ablasshandel 1517 tatsächlich eigenhändig mit lauten Hammerschlägen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg schlug, ist zwar umstritten, eine Provokation erster Güte blieben sie dennoch. Oder Rosa Parks, die Afroamerikanerin, die sich 1955 weigerte, ihren Sitzplatz im Bus für einen Weißen zu räumen und damit zur Symbolfigur der Bewegung gegen die Rassentrennung wurde. Oder das Bild von den nackten Männlein und Weiblein der "Kommune 1", die sich 1967 gegen die verkrustete Gesellschaft im Nachkriegsdeutschland stemmten. Oder das "stern"-Titelbild "Wir haben abgetrieben" von 1971.

Für aufgeklärte Gesellschaften ist die Provokation ein Aushängeschild: Wider den Strich bürsten zu dürfen, bis es weh tut, ist der Kern von Freiheit, es gibt nichts, was Freiheit mehr ausmacht. Diese Freiheit schließt freilich die Bereitschaft ein, Provokationen auszuhalten. Man muss die Meinung der Karikaturisten von "Charlie Hebdo" nicht teilen. Man darf ihre Zeichnungen verabscheuen, egal ob man Moslem, Christ oder gar nicht gläubig ist, ebenso wie man sich königlich darüber amüsieren darf. Aber genau das ist Freiheit: Man darf. Man darf sich seine eigene Meinung bilden.

Es ist kein Zufall, dass in Diktaturen ebenso wie in religiös-fundamentalistischen Staaten jede unerwünschte Provokation erbittert verfolgt wird. Was die Zensur übrig lässt, ist leere Propaganda. Von dieser traurigen Regel gibt es keine Ausnahme. Darin gleichen sich alle totalitären Systeme. Wo kritische Provokation bekämpft wird, existiert keine Freiheit.

Öffentliche Diskurse sind selten frei von Provokationen. Doch sie schärfen das Profil einer Gesellschaft. Auch die Aufmärsche zig-tausender "Pegida"-Anhänger in diesen Tagen sind eine Provokation. Zugleich aber eine großartige Gelegenheit, die Debatte, inwiefern Ausländer diesem Land nutzen oder nicht, einmal mit allem zu führen, was dazugehört: mit Daten, Fakten, Zusammenhängen. Dann wird man sehen, was am Ende übrig bleibt von den vagen Behauptungen, dem Schüren von Ressentiments, der ganzen Unschärfe, mit der die selbst ernannten Retter des Abendlandes gern argumentieren. Provokationen, egal woher sie kommen, sind essenziell, weil sie die wichtigste aller Fragen aufwerfen: Wo stehen wir?

"Provozieren heißt, die Leute denken zu lassen", sagt denn auch der englische Schriftsteller John le Carré. Und der große Kurt Tucholsky, der gestern vor 125 Jahren geboren wurde, beschrieb das Wesen einer besonders scharfen Form der Provokation so: "Die Satire muss übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten."

Nun ist es nicht so, dass Provokateure alles dürfen. Bewährtes Korrektiv gegen Geschmacklosigkeiten ist in den meisten Fällen die öffentliche Diskussion. Und wo Provokation eindeutig über das Ziel hinausschießt, schreitet der Rechtsstaat ein. Er garantiert nämlich auch Persönlichkeitsrechte, er schützt vor Verleumdung, Ehrverletzung, vor Verhetzung. "Die Würde des Menschen ist unantastbar" lautet nicht umsonst der erste Artikel unseres Grundgesetzes.

Am schwersten wiegen stets Provokationen, welche die Grenzen von Tabus überschreiten. Denn keine Gesellschaft kommt ohne Tabus aus. Sie stiften Identität, ohne sie ist ein einvernehmliches Miteinander kaum möglich. Aber Tabus verlangen vorauseilenden Gehorsam, und weil ihr Gebot das Schweigen ist, bilden sie den Nährboden für Verdrängung und Manipulation. Kabarettisten und Karikaturisten gehören zu den wenigen, die sich an Tabus heranwagen. Etwa an Religion.

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In Deutschland ist die Beschimpfung religiöser Bekenntnisse laut Paragraf 166 StGB strafbar, wenn sie "geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören". So verurteilten Gerichte die Anbieter eines T-Shirts mit einem ans Kreuz genagelten Schwein ebenso wie die Initiatorin eines Aufklebers, auf dem der Satz "Masochismus ist heilbar" unter dem Gekreuzigten zu sehen ist. In vielen anderen Fällen aber wurden die Verfahren eingestellt. Wie gesagt: Die Beschimpfung der Religion, nicht aber die Kritik an ihr ruft den Staatsanwalt auf den Plan.

Aus gutem Grund: In der Bundesrepublik haben sowohl die Freiheit der Meinungsäußerung wie auch die Freiheit der Kunst Verfassungsrang. Befremden löste daher der deutsche Autor Günter Grass aus. Ausgerechnet der Literaturnobelpreisträger kritisierte 2006 die Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung "Jyllands-Posten" als "bewusste und geplante Provokation eines rechten dänischen Blattes" und zeigte sich von der gewalttätigen Reaktion seinerzeit wenig überrascht.

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Unbequeme Ansichten nicht äußern? Unbequeme Bilder nicht zeichnen? Auf Provokationen verzichten? Die Schere besser schon im Kopf schnibbeln lassen? Von Provokationen absehen - weil sie grausame Verbrechen nach sich ziehen könnten? Das Drama von Paris liefert uns eine klare Antwort: Es wäre nicht das, was wir uns unter Freiheit vorstellen. Hier geht es um das Prinzip: keine Denkverbote. Halten wir es also statt mit Grass lieber mit le Carré: Provozieren heißt, die Leute denken zu lassen.

(RP)
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