Kameramann berichtet von Utoya "Dann begriffen wir langsam, was passierte"

Oslo · Noch bevor die Polizei die norwegische Insel Utoya erreichte, filmte ein Kameramann den grausamen Mord an den Kindern und Jugendlichen. Nun berichtet der Reporter, wie er das Massaker erlebte.

Der Kameramann des norwegischen Fernsehens hat aus einem Hubschrauber die einzigen bekannten Aufnahmen des Täters während des Massakers auf der Insel Utoya gemacht. Er habe zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung gehabt, dass er den Täter vor der Linse habe, sagte Marius Arnesen, der für den öffentlich-rechtlichen Sender NRK arbeitet. Er befand sich zum Tatzeitpunkt in einem Hubschrauber 200 Meter über der Insel, während Jugendliche in Panik vor dem Attentäter ins Wasser flüchteten.

Ihm sei auch das Ausmaß des Blutbads nicht bewusst gewesen, sagte Arnesen. Mindestens 68 Menschen wurden auf der Insel tödlich verletzt. "Wir umkreisten die Insel und machten Aufnahmen der Insel", sagte er der Nachrichtenagentur AP am Mittwoch. "Sie sah leer aus, deshalb dachte ich zuerst, dass die Polizei die Insel evakuiert hatte. Dann sahen wir Menschen schwimmen und im Wasser treiben. Und dann begriffen wir langsam, was passierte."

Er machte Nahaufnahmen eines Teils der Insel, wo sich Menschen ins Wasser gestürzt hatten. "Es ist wirklich schwierig, eine Kamera still zu halten und den Ausschnitt richtig hinzukriegen. Also habe ich auf Nahaufnahme gestellt und versucht, drei Sekunden lang still zu halten."

Seine Bilder zeigen einen Mann in dunkler Kleidung, umgeben von Leichen, die sich am Strand und im Wasser türmen. Der Sender NRK gab die Bilder an andere Medien weiter, nachdem die Opfer unkenntlich gemacht worden waren.

Als der Hubschrauber die Insel zum Auftanken verließ, war sich Arnesen nach eigenen Angaben noch immer nicht sicher, was er aufgenommen hatte. Erst am nächsten Morgen hätten NRK-Redakteure die Aufnahmen nacheinander einzeln angesehen und festgestellt, dass ihnen Videoaufnahmen von Anders Behring Breivik vorlagen, dem 32-jährigen Norweger, der die Schüsse auf der Insel und den vorangegangenen Anschlag auf Regierungsgebäude in Oslo gestanden hat. Sie hätten ihn, Arnesen, angerufen und ihm mitgeteilt, dass er den Täter mit der Kamera eingefangen habe.

Die Tatsache, dass der NRK-Hubschrauber vor dem Sondereinsatzkommando der Polizei am Tatort eingetroffen war, löste Kritik an der Arbeit der Sicherheitskräfte aus. Angehörige von Teilnehmern des Jugendlagers auf der Insel warfen die Frage auf, ob der Pressehubschrauber Menschen in noch größere Gefahr brachte.

"Kein Ort, wo wir hätten landen können"

Marianne Bremnes, deren 16-jährige Tochter Julie während der Tat auf der Insel kauerte, erklärte, ihre Tochter habe sich beim Anblick des Hubschraubers aus ihrem Versteck gewagt und ihre rosa Regenjacke geschwenkt. Sie habe gedacht, der Helikopter sei gekommen, um sie zu retten. "Wäre sie an der falschen Stelle gewesen, wäre sie getötet worden, weil die Polizei noch nicht eingetroffen und der Schütze noch nicht festgenommen war", sagte Bremnes am Mittwoch. Ihre Tochter habe überlebt, aber fünf ihrer Freunde verloren.

"Meiner Meinung nach hätte die Presse wegbleiben sollen, bis die Polizei eingetroffen war und sie wissen konnten, was vor sich geht. Es sollte ethische Richtlinien dafür geben, wie sie handeln, obwohl ich verstehe, dass die Presse eine wichtige Rolle zu spielen hat."

Arnesen sagt, er habe während des Einsatzes überlegt, wie er helfen könne. "Ich glaube, solche Gedanken hat man immer, und dann begreift man irgendwo, dass das unmöglich ist.", sagte er. "Es gab keinen Ort, an dem wir mit dem Hubschrauber hätten landen können - wir wussten, dass da ein Bewaffneter herumläuft. Du versuchst einfach, dich auf deinen Job zu konzentrieren."

(apd/sdr/RPO)
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