Gravierender Mangel an Spendern im Riesenreich Chinas Todestrakte liefern die meisten Organe

Peking · Die Organentnahme bei Häftlingen in China ist zwar rückläufig, ganz stoppen will Peking sie aber nicht. Denn kaum ein Chinese spendet.

Die Szene auf der Krankenstation im Phoenix Tumor-Hospital in der ostchinesischen Provinzhauptstadt Hefei war ebenso grotesk wie abstoßend. Der unrettbar an Leberkrebs erkrankte Patient Xu Bao wollte etwas Gutes tun. Der 35-jährige hatte sich dazu mit Vertretern des Roten Kreuzes verabredet. Das Lokalfernsehen war auch dabei. Die Reporter sollten filmen, wenn Xu Bao im Hospital feierlich einen Spenderausweis unterzeichnen würde.

In dem Dokument sollte geregelt sein, dass der Patient nach dem Tod seine Augenhornhaut und andere gesunde Organe für bedürftige Patienten zur Verfügung stellt. Ein Rotkreuz-Mitarbeiter erschien und wollte, dass Xu rasch und ohne Formalitäten die Einwilligung unterzeichnet. Doch da drängte sich plötzlich ein Vertreter des Hefei- Aier-Hospitals für Augenheilkunde in die Szene. Beide stritten sich vor laufenden Kameras und den Augen des geschockten Spenders um dessen Körperteile.

Xu zog darauf sein Angebot entsetzt zurück, berichtete die "Global Times". Reporter des TV-Teams nannten die Atmosphäre "hochnotpeinlich." Das makabere Geschachere spiegelt jedoch einen akuten Notstand wider. 1,5 Millionen verzweifelte chinesische Patienten warten derzeit auf Nieren, Lebern oder andere verpflanzbare Körperorgane, um ihr Leben zu retten oder doch wenigstens zu verlängern. Aber nur rund 10.000 von ihnen kann pro Jahr geholfen werden.

Berichte über unter Druck gesetzte Todeskandidaten

China leidet an einem gravierenden Mangel an Spenderorganen, seit der Staat weniger Todesstrafen vollstrecken lässt und der kriminelle Beschaffungshandel schärfer verfolgt wird. Der Organ-Nachschub vom schwarzen Markt ist teilweise versiegt, und auch aus den chinesischen Gefängnissen kommen bei Weitem nicht mehr so viele Organe wie früher.

Noch vor wenigen Jahren bezogen Chinas Hospitäler mehr als 90 Prozent ihrer Transplantate aus den Haftanstalten. Heute kommen dagegen "nur" noch 60 bis 70 Prozent von exekutierten Kriminellen, meldete die Zeitung "Beijing Wanbao" unter Berufung auf amtliche Zahlen aus Chinas Gesundheitsministerium.

Offiziell gilt neuerdings, dass ohne vorab erteilte schriftliche Zustimmung Hingerichteten keine Organe entnommen werden dürfen. In Chinas Medien finden sich allerdings kritische Berichte darüber, mit welchen Methoden Gefangene in Todeszellen unter Druck gesetzt würden, um ihre Einwilligung zu einer Organspende "freiwillig" zu unterschreiben.

Der schockierende Missbrauch ist aber nicht nur ein Medienthema. Widerstand gegen die Praxis der Organentnahme bei Hingerichteten wächst auch innerhalb des Systems. So nennt der Leiter des dem Gesundheitsministerium unterstellten Koordinationszentrums "China Organ Transplant Response System Center", Wang Haibo, das bisher praktizierte Organ-Beschaffungssystem "unethisch und auf Dauer nicht nachhaltig".

Ein lukrativer Transplantationstourismus

Der heutige Vizegesundheitsminister Huang Jiefu schockte 2005 die Weltöffentlichkeit, als er eingestand, dass für fast alle Transplantationen in China die Organe erschossener Häftlinge genutzt wurden. Er forderte schon damals ein Ende der Praxis, zum Tod verurteilte und exekutierte Verbrecher als "Ersatzteillieferanten" für Körperorgane zu missbrauchen.

An den öffentlichen Pranger kamen auch Krankenhäuser und Geschäftemacher, die einen lukrativen Transplantationstourismus aufgezogen hatten. Schwerreiche, vor allem aus Südostasien, Japan oder Südkorea stammende Patienten konnten neue Nieren oder Lebern gegen horrende Summen zur Transplantation bestellen und traten dafür organisierte Reisen nach China an, Unterbringung und Operation inbegriffen.

Damit ist es heute weitgehend vorbei. Chinesische Gerichte verurteilten zudem in spektakulären Prozessen Organhändler, die arme Wanderarbeiter mit Prämien bis zu 3500 Euro dazu verführten, eine ihrer Nieren zur Entnahme zu verkaufen. Bedürftige Patienten zahlten später auf dem Organ-Schwarzmarkt das Zehnfache dafür. Huangs Feldzug gegen diese unmoralischen Praktiken und sein Kampf für ein transparentes und auf Freiwilligkeit beruhendes Organspende-System zeigen inzwischen Wirkung, auch wenn sich das Problem des Organnotstands in China damit noch einmal verschärft.

Exekutionszahlen wie ein Staatsgeheimnis gehütet

Dazu kommt: Seit 2007 überprüft Chinas oberstes Volksgericht jedes Todesurteil in seiner neugeführten dritten Instanz. Das hat dazu geführt, dass sich die Zahl der noch vor zehn Jahren exzessiv verhängten Todesurteile und die damals geschätzt mehr als 8000 Hinrichtungen pro Jahr nahezu halbiert hat. Trotzdem sind es immer noch so erschreckend viele Fälle, dass Peking weiterhin nicht wagt, konkrete Exekutionszahlen zu nennen, sondern sie wie bisher als Staatsgeheimnis hütet.

Die Gefangenenhilfsorganisation Amnesty International, die in früheren Jahren alle öffentlich zugänglichen Einzelangaben aus China sammelte und allein damit schon so auf weit über jährlich 1000 Hinrichtungen kam, nennt seit 2009 bewusst keine Zahlen mehr, weil die Dunkelziffer zu hoch sei. Amnesty schrieb in ihrem jüngsten Jahresbericht für 2012, dass in China weiter "Tausende" exekutiert werden, auf jeden Fall mehr, als alle anderen Länder der Welt zusammen hinrichten ließen.

Die US-Gefangenhilfsorganisation "Duihua", die gute Kontakte nach Peking unterhält, schätzte 2012 die Zahl der durch Giftinjektion oder Erschießen getöteten Delinquenten auf immer noch 4000. Immerhin gibt es einen kleinen Lichtblick: Seit 2011 hat China seine bis dahin 68 Verbrechensarten, die Gerichte mit dem Tode ahnden durften, auf künftig nur noch 55 reduziert.

Landesweites Spendensystem soll aufgebaut werden

Die Forderungen werden unterdessen immer lauter, den Zusammenhang zwischen Hinrichtungen und Organspenden ganz zu kappen. Vize-Gesundheitsminister Huang Jiefu sagte der Zeitschrift "Caixin" unlängst: "China ist das einzige Land der Welt, das für seine Transplantationen noch immer systematisch Organe von hingerichteten Gefangenen nutzt. Das schädigt schwerwiegend das Ansehen des Landes als zivilisierte und fortschrittliche politische Macht." Huang versprach nach Angaben der Nachrichtenagentur "Xinhua" in "drei bis fünf" Jahren Chinas Abhängigkeit von Hinrichtungen zur Organbeschaffung zu überwinden.

Sein Versprechen erscheint freilich ebenso ehrgeizig wie unrealistisch. Bisher kommen erst knapp ein Drittel aller bei Transplantationen verwendeten Organe von Familienmitgliedern, Verwandten oder Freunden der Patienten. Die Öffentlichkeit spendet so gut wie gar nichts.

Seit März 2010 versuchen Staatsrat und Gesundheitsministerium unter Federführung des Roten Kreuzes ein landesweites Spendensystem aufbauen. Bis Ende des Jahres soll es in allen 31 Provinzen eingeführt sein. In den ersten drei Jahren wurden nach Angaben von Rotkreuz-Leiter Zhao Baige aber lediglich 1804 Organe von insgesamt 659 Personen gespendet.

Neben Misstrauen gegenüber den staatlichen Spendeninitiativen halten auch konfuzianisch überlieferte Vorstellungen die meisten Chinesen vom Organspenden ab. Nach Statistiken des Gesundheitsministeriums kommen daher bisher nur 0,03 Organspender auf eine Million Chinesen. In Spanien, wo die Spendenbereitschaft weltweit am höchsten ist, sind es 34 — das Tausendfache.

(das)
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