Die Geschichte von „Charlie Hebdo“ Urteile im Prozess gegen Terrorattacke 2015 erwartet
Paris · Von den Terrorplänen rund um die Attacken auf „Charlie Hebdo“ und den koscheren Supermarkt wollen sie nichts gewusst haben. Staatsanwälte sehen dies anders und fordern lange Haftstrafen für die Angeklagten.
Im Prozess um die blutigen Attacken auf das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ und einen koscheren Supermarkt in Paris vom Januar 2015 werden am Mittwoch die Urteile erwartet. Vor Gericht stehen seit September elf Verdächtige, die bei den Terrorakten mit 17 Todesopfern geholfen haben sollen. Drei weitere Angeklagte konnten sich kurz vor den Bluttaten nach Syrien absetzen.
Die anwesenden Beschuldigten kennen sich aus Cliquen oder aus dem Gefängnis und gaben im Prozess an, mit Terror nichts zu tun zu haben. Von den Motiven der Attentäter hätten sie nichts gewusst und hätten sich - wenn überhaupt - als Mittäter bei gewöhnlicheren Verbrechen wie bewaffnetem Raubüberfall gewähnt, erklärten sie.
Ein Angeklagter will während der Terrorserie vom 7. bis zum 9. Januar Tag und Nacht mit Glücksspiel zugebracht und erst nach dem Ausflug ins Kasino erfahren haben, was passiert war. Bei einem anderen handelte es sich um einen Krankenwagenfahrer mit Hang zu Marihuana. Ein dritter Angeklagter war ein Kindheitsfreund des Attentäters Amédy Coulibaly, der eine Polizistin im Süden von Paris erschoss und tags darauf vier Geiseln im Supermarkt tötete.
Wegen der Corona-Infektion eines Hauptangeklagten wurde der Prozess für einen Monat unterbrochen. Der Mann fiel im Gericht wiederholt mit verbalen Ausbrüchen und Beschimpfungen auf, mehrmals rief ihn der Vorsitzende Richter daher zur Ordnung. Als einziger der Beschuldigten droht ihm lebenslange Haft. Ein Experte für Graphologie sagte vor Gericht aus, es sei der Hauptangeklagte gewesen, der eine Liste mit Waffen und Munition erstellt habe, die mit dem Anschlag in Verbindung gebracht werden.
Die von der Staatsanwaltschaft geforderten Haftstrafen beginnen bei fünf Jahren - so lange soll aus deren Sicht ein Beschuldigter hinter Gitter, der bei einem Waffen- und Autokauf mitgegangen und keine Fragen gestellt haben soll, als sein Freund den GPS-Tracker von einem Motorrad entfernte.
Ermittler arbeiteten sich für das Verfahren durch 37 Millionen Mitschnitte von Telefondaten, wie aus einer auf Video festgehaltenen Aussage der Polizei hervorging. Unter den Angeklagten, die gefesselt in verglasten Boxen im Gerichtssaal saßen, waren etliche, die mit dem Attentäter Coulibaly in den Tagen von dessen Tat per SMS oder telefonisch in Kontakt gestanden hatten. Den Austausch beschrieben sie als normale Kommunikation unter Bekannten.
Unter den Zeugen waren die Witwen von Chérif und Saïd Kouachi, jenen Brüdern, die am 7. Januar 2015 die Redaktion von „Charlie Hebdo“ in Paris stürmten und das Feuer eröffneten. Die Tat bezeichneten sie als Racheakt für vorangegangene Veröffentlichungen von Karikaturen des Propheten Mohammed. Bei diesem Anschlag kamen zwölf Menschen ums Leben, darunter die bedeutendsten Zeichner des Magazins.
Zunächst brachten die Gebrüder damals die Karikaturistin Corinne Rey in ihre Gewalt, die für eine Zigarettenpause vor die Tür gegangen war. Die Angreifer zwangen sie, den Zugangscode zur Redaktion einzutippen. Mit Entsetzen musste Rey dann mit ansehen, wie die Männer ihre Kollegen erschossen. Jahrelang hätten sie deswegen Schuldgefühle geplagt, weil ihr Leben verschont worden sei, erklärte sie. „Es hat eine Weile gedauert, bis ich verstanden habe, dass nicht ich die Schuldige an dem Ganzen bin. Die einzigen Schuldigen sind die Kouachis und deren Komplizen.“
Die Geschichte der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“
November 1970 „Charlie Hebdo“ wird gegründet. Der Name spielt auf die US-Comicfigur Charlie Brown an, „hebdo“ auf die wöchentliche Erscheinungsweise. Das Blatt versteht sich als laizistisch und antiklerikal.
1981 Wegen Finanzproblemen und zahlreicher Klagen wird „Charlie Hebdo“ eingestellt.
1992 Die Satirezeitung wird von früheren Mitarbeitern wiederbelebt.
2006 „Charlie Hebdo“ druckt zwölf Mohammed-Karikaturen aus der dänischen „Jyllands-Posten“ nach. Danach gibt es immer wieder Morddrohungen gegen die Redaktion.
2008 Die französische Justiz urteilt, die umstrittenen Karikaturen stellten keine „Beleidigung von Muslimen“ insgesamt dar. Sie seien nur eine Satire auf Extremisten.
2011 Als „Charia Hebdo“ (Scharia Hebdo) veröffentlicht die Zeitung eine Mohammed-Karikatur auf der Titelseite. Der Prophet droht „hundert Peitschenhiebe“ an, „wenn Sie nicht vor Lachen sterben“. Am Tag des Erscheinens wird ein Brandanschlag auf die Redaktion verübt, die Regierung macht Islamisten verantwortlich.
7. Januar 2015 Zwei Islamisten überfallen die Redaktion und ermorden zwölf Menschen, darunter Redaktionsleiter Stéphane Charbonnier (Künstlername: Charb) sowie mit Cabu, Tignous und Wolinski einige der bekanntesten Karikaturisten Frankreichs.
11. Januar 2015 Unter dem Motto „Je suis Charlie“ (Ich bin Charlie) gehen in Frankreich mehrere Millionen Menschen gegen Terrorismus und für die Pressefreiheit auf die Straße, auch viele Muslime. Zahlreiche Menschen weltweit bekunden ihre Betroffenheit in Online-Netzwerken.
14. Januar 2015 Die „Ausgabe der Überlebenden“ erscheint. Sie zeigt auf dem Titel einen weinenden Propheten Mohammed, der ein Schild mit der Aufschrift „Je suis Charlie“ in den Händen hält. Drei Millionen verkaufte Exemplare und Spenden spülen dem Blatt viel Geld in die chronisch leeren Kassen.
Dezember 2016 Eine deutsche Ausgabe von „Charlie Hebdo“ kommt auf den Markt. Sie wird nach nur einem Jahr wegen zu weniger Leser eingestellt.
2. September 2020 Der Prozess gegen 14 mutmaßliche Hintermänner der Anschläge auf „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt vom Januar 2015 beginnt in Paris. Die Satirezeitung druckt erneut die Mohammed-Karikaturen nach. In Pakistan, im Iran und anderen muslimisch geprägten Ländern kommt es zu Protesten, das Terrornetzwerk Al-Kaida droht mit einem neuen Anschlag.
25. September 2020 Ein Pakistaner verletzt zwei Menschen vor dem früheren Sitz von „Charlie Hebdo“ schwer. Er begründet seine Tat mit Wut über die Mohammed-Karikaturen.
16. Oktober 2020 Ein mutmaßlicher Islamist enthauptet den Geschichtslehrer Samuel Paty bei Paris, der Mohammed-Karikaturen im Unterricht gezeigt hatte. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verteidigt bei der Trauerfeier die Meinungsfreiheit, es folgen weitere Proteste und Boykottaufrufe in muslimischen Ländern.
16. Dezember 2020 Das Urteil im Prozess um „Charlie Hebdo“ wird erwartet. Die Anklage fordert lebenslange Haftstrafen für die beiden Hauptangeklagten.