75 Jahre Rheinische Post Wie Start-ups das Rheinland verändern

Düsseldorf · Vom Schreibtisch des Ruhrgebiets zu Silicon Rheinland: Start-ups verändern das Verbreitungsgebiet der Rheinischen Post mit ungeheurer Dynamik, während etablierte Konzerne immer stärker den Austausch suchen.

 Die führenden Köpfe bei Zalando: Rubin Ritter, David Schneider, Robert Gentz.

Die führenden Köpfe bei Zalando: Rubin Ritter, David Schneider, Robert Gentz.

Foto: Zalando

Die bislang größte Gründer-Geschichte des Rheinlands wäre ohne die Bequemlichkeit eines Studenten wohl nie geschrieben worden: Es ist 1998, an der Handelshochschule Leipzig werden die neuen Erstsemester begrüßt. Wer kann schon ahnen, dass sich auf der Namensliste der Studienanfänger die vier späteren Gründer der weltbekannten Hotel-Suchmaschine Trivago befinden? Zusammen bringt sie der blanke Zufall. Ein Student soll Kleingruppen einteilen, in denen während der Begrüßungswoche unter anderem Planspiele absolviert werden. Er könnte abzählen, wählen lassen, würfeln. Stattdessen entscheidet er sich für die einfallsloseste Variante. Er macht auf einer Liste nach jeweils fünf Namen einen Strich. Das Gründerteam eines der bekanntesten Start-ups in Deutschland findet zusammen, weil ihre Namen Malte Siewert, Stephan Stubner, Rolf Schrömgens und Peter Vinnemeier im Alphabet dicht beieinander liegen.

Während seiner Zeit als Trivago-Chef hat Rolf Schrömgens diese Geschichte häufig erzählt, wenn er neue Mitarbeiter im Düsseldorfer Hauptquartier begrüßte. Schrömgens wollte damit klarmachen, dass man vieles planen, prognostizieren und organisieren kann - am Ende aber manchmal der Zufall entscheidend ist, weil er Chancen schafft und völlig neue Wege ermöglicht. Oder, wie man im Rheinland sagt: Et kütt wie et kütt.

Die Entwicklung der deutschen Gründerszene hat viel mit solchen Zufällen zu tun. Aber, und das ist aus NRW-Sicht einerseits erfreulich, gleichzeitig aber auch bedauerlich: Sie hat auch besonders viel mit Rheinländern zu tun: Die drei Kölner Brüder Oliver, Marc und Alexander Samwer bauten in Berlin erst einen Klon des Auktionshauses Ebay auf, um später mit ihrer Start-up-Fabrik Rocket Internet Gründungen am Fließband zu produzieren. Die Gründer von Europas größtem Modehändler Zalando, David Schneider und Robert Gentz, entwickelten ihre Idee im Garten von Gentz’ Elternhaus im rheinischen Kaarst. Und der Rheinland-Patriotismus vom Mitgründer des Kochboxen-Versenders Hellofresh, Thomas Griesel, ist so groß, dass er noch immer in Düsseldorf wohnt.

Es sind Beispiele von vielen. Denn je länger man sucht, umso mehr Rheinländer findet man – in der Gründerszene, auf Seiten der Kapitalgeber oder als maßgebliche Kräfte im politischen Umfeld, so wie den Beauftragten für die digitale Wirtschaft und Start-ups im Bundeswirtschaftsministerium, der Düsseldorfer Thomas Jarzombek.

Doch während die Samwer-Brüder genau wie die Zalando- und Hellofresh-Gründer ihre Unternehmen in Berlin aufgebaut haben, entwickelt sich inzwischen auch abseits von Trivago eine lebendige Gründerszene im Rheinland. Und damit wird das Thema natürlich auch für ein regionales Medienhaus wie die Rheinische Post immer relevanter.

Die Rheinische Post hat bereits 2015 in der gedruckten Ausgabe die Seite „Digitale Wirtschaft“ eingeführt, um Gründer- und Digitalthemen sichtbarer zu machen. Damals hatten Berlin und Bayern (insbesondere München) Nordrhein-Westfalen meilenweit abgehängt. Es gab nur wenige Start-ups mit nationaler oder gar internationaler Strahlkraft – und was noch viel schlimmer war: Jeder Gründer mit großen Ambitionen stellte sich von vornherein die Standortfrage: Kann ich es mir erlauben, in NRW zu gründen? Oder muss ich zum Wohl des Unternehmens der Region den Rücken kehren und in Berlin und Co. mein Glück versuchen?

Viele entschieden sich für den zweiten Weg – und es dauerte, bis auch die Landesregierung erkannte, dass sie die Gründerszene politisch stärker in den Blick nehmen musste. Denn Wirtschaft genoss im rot-grünen Kabinett von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft keine Priorität. Schon in der Präambel des Koalitionsvertrages hieß es, für Rot-Grün stehe nicht der Markt, sondern der Mensch im Mittelpunkt. Das Wort “Start-ups” tauchte 2012, immerhin das Jahr des Facebook-Börsengangs, nur an einer Stelle auf: Man wolle prüfen, inwieweit man Hochschulen bei Ausgründungen und Start-ups strategisch begleiten könne.

Der spätere NRW-Wirtschaftsminister Garrelt Duin (SPD) hat diesen Koalitionsvertrag nicht mit verhandelt, was er später bedauerte. Als der Norddeutsche ins Amt kam, blieb ihm nicht viel Anderes übrig, als die politischen Konzepte anderer umzusetzen - oder sich alternativ eigene Projekte zu suchen.

Bei einem Termin in Paderborn lernte Duin 2013 Tobias Kollmann kennen, den Mitgründer der Plattform Autoscout24 und heutigen Professor für E-Entrepreneurship und E-Business an der Universität Duisburg-Essen. Kollmann kritisierte bei der Veranstaltung in scharfen Worten die Bedingungen in NRW. Ein Reporter der örtlichen Regionalzeitung notierte am Veranstaltungstag, Kollmann habe bemängelt, dass Risikokapital im Land fehle, an den Universitäten zu wenig unternehmerische Kompetenz vermittelt werde und es in Duins Ministerium einen Landesbeauftragten für die Informations- und Kommunikationswirtschaft als Ansprechpartner brauche.

Kollmann sagt, nach seinem Vortrag sei Stille im Raum gewesen, niemand habe genau gewusst, wie er reagieren sollte, denn die Veranstaltung sei eigentlich als positive Leistungsschau geplant gewesen. Doch Duin sei ostfriesisch cool geblieben. „Er meinte dann nur: Herr Kollmann, wir müssen uns mal treffen und reden”, erinnert sich Kollmann.

Vier Monate später wird der Professor nebenberuflich zum Beauftragten für die digitale Wirtschaft in Nordrhein-Westfalen ernannt. Mit einer Stabsstelle soll er das Thema abseits der Strukturen im Ministerium vorantreiben. Das Ziel: Gemeinsam mit einem neu geschaffenen Beirat soll Kollmann ein Konzept entwickeln, mit dem NRW gründerfreundlicher würde; mit dem das Land den Rückstand auf Berlin und andere Regionen verkürzen könnte.

Die Digital-Hubs, die im Rahmen dieser Beratungen als Idee entstanden sind, gibt es noch heute: Es sind Zentren, die junge Gründer und etablierte Unternehmen zusammenbringen sollen, die dafür sorgen, dass sich die Gründerszene in Köln, Düsseldorf, Aachen oder Bonn auch über die Stadtgrenzen hinaus vernetzt. Doch Duin musste diese Projekte mit vergleichsweise kleinem Budget auf den Weg bringen, denn in der Landesregierung lagen die Prioritäten weiterhin woanders.

Daran änderte auch nichts, dass Ministerpräsidentin Hannelore Kraft 2015 zu Jahresbeginn per Regierungserklärung im Landtag eine Digitalisierungsoffensive unter dem Motto “MegaBits. MegaHerz. MegaStark.” ausgerufen hatte. Die Ministerpräsidentin sprach von smarter Wirtschaft, von Wettbewerben namens “App in die Mitte”, und davon, dass NRW “the place to be” werden müsse. Es war eine Rede, der man die mangelnde Kenntnis der Materie von vorne bis hinten anmerkte.

Und als wäre all das nicht genug, rief bei der Replik des damaligen FDP-Oppositionspolitikers und heutigen Bundesvorsitzenden Christian Lindner auf Krafts Rede auch noch ein SPD-Hinterbänkler dazwischen und macht sich über eine gescheiterte Gründung des FDP-Chefs lustig. Gerade eben noch hatte die Ministerpräsidentin für mehr Gründergeist im Land geworben. Nun macht ausgerechnet ein Parteikollege das Scheitern zum Stigma. Für Lindner ist das die Steilvorlage, er setzt nahtlos zu einer Wutrede an: „Wenn man Erfolg hat, gerät man in das Visier der sozialdemokratischen Umverteiler, und wenn man scheitert, ist man sich Spott und Häme sicher.“ Das Video wird ein viraler Hit - und die FDP schärft ihr Profil als Partei der Gründer.

Inzwischen regieren die Liberalen gemeinsam mit der CDU. Die Koalition setzt andere Schwerpunkte als die Vorgängerregierung – und die Themen Gründungen und Innovation spielen dabei eine zentrale Rolle.

Vor Duins Amtsantritt war das bisherige Wirtschafts- und Verkehrsministerium in den Koalitionsverhandlungen noch halbiert worden, der Ostfriese musste jahrelang das Haus mit dem kleinsten Etat der Landesregierung führen. Der amtierende Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart und die FDP hingegen sorgten in den Koalitionsverhandlungen dafür, dass aus dem Ministerium wieder ein Machtzentrum wurde - wofür unter anderem auch Aufgaben und Personal aus anderen Häusern wie dem Innen- oder dem Verkehrsministerium abgezogen wurden.

Und dann verschwanden die Begriffe “Industrie”, “Mittelstand” und “Handwerk” aus den Signaturen des Hauses, stattdessen: Wirtschaft. Innovation. Digitalisierung. Der Fokus ist klar, der Anspruch auch: Hier wird unabhängig von Branchen und Unternehmensgrößen an der Zukunft gearbeitet. Flankiert wurde die Neuausrichtung durch die erstmalige Einrichtung eines Digitalausschusses im NRW-Landtag.

Es tut sich etwas in NRW. Und darauf hat auch die Rheinische Post reagiert. Die Seite „Digitale Wirtschaft“ gibt es in der gedruckten Zeitung nicht mehr. Denn die Digitalisierung erfasst jeden Lebens- und Wirtschaftsbereich. Eine digitale Wirtschaft sollte daher nicht wie eine Ausnahme wirken, Digitalisierung und digitale Geschäftsmodelle sollten vielmehr die Regel sein.

Die Start-up-Berichterstattung spielt dennoch eine größere Rolle in der täglichen Berichterstattung als je zuvor. Denn einerseits gibt es heute viel mehr Start-ups in NRW als noch vor fünf Jahren. Andererseits ist die gedruckte Zeitung längst nicht der einzige Ort, an dem Geschichten über das Gründerland NRW erscheinen. Bei RP-Online hat die Redaktion bereits vor einigen Jahren die Kategorie „RP-Gründerzeit“ eingeführt, wo die Start-up-Berichterstattung der Rheinischen Post gebündelt wird. Und im März 2019 kam ein wöchentlicher Newsletter „Update“ dazu, der jeden Freitag um 17 Uhr die wichtigsten Themen aus der NRW-Start-up-Szene der Woche zusammenfasst. Heute lesen die Abonnenten dieses Newsletters manche Exklusiv-Geschichte früher als alle anderen.

An Themen mangelt es jedenfalls nicht. Natürlich liegen München und Berlin auch heute noch deutlich vor NRW. Doch an Rhein und Ruhr ist ein neuer Gründergeist entstanden, der sich nach und nach immer mehr entfaltet. Das Rheinland spielt dabei eine zentrale Rolle. Aus dem ehemaligen Schreibtisch des Ruhrgebiets ist eine Art Silicon Rheinland geworden.

Allein in Düsseldorf gab es in den vergangenen Jahren zahlreiche Erfolgsgeschichten:

Dazu zählt die Hotel-Suchmaschine Trivago, auch wenn sie aktuell – hart getroffen von der Corona-Krise und unter Druck gesetzt von der Übermacht von Google – um ihre Zukunft kämpft. Doch den Gründern ist es gelungen, über Jahre hinweg ein Unternehmen mit internationaler Strahlkraft aufzubauen, das zahlreiche internationale Talente nach Düsseldorf gelockt hat. Und als das US-Reiseportal Expedia am 12. März 2013 bekanntgab, dass man 61,6 Prozent der Trivago-Anteile für 434 Millionen Euro und 875.200 eigene Aktien übernommen hatte, war das eines der spektakulärsten Transaktionen in der damals noch jungen deutschen Gründergeschichte.

Trivago wurde zu einem Aushängeschild der Landeshauptstadt. Und die Gründer um Rolf Schrömgens sorgten mit vielen Investments in Start-ups wiederum dafür, dass sich die Szene entwickelte – auch in Düsseldorf. Denn Monkfish Equity, wie die vier Trivago-Gründer ihr Investment-Vehikel nannten, investierte hier unter anderem in das Gewürz-Unternehmen Just Spices oder das Rechtsdienstleister-Start-up Rightnow.

Dazu zählen aber auch weitere Erfolgsgeschichten wie Boxine oder Auxmoney. Während die Boxine-Gründer Patrick Faßbender und Marcus Stahl mit ihrem Lautsprecherwürfel namens Toniebox inzwischen sogar die Kinderzimmer in den USA erobern wollen, baut Auxmoney in Düsseldorf einen Kredit-Marktplatz auf. Und auch der Ableger des niederländischen Lebensmittel-Lieferdienst-Start-ups Picnic baut von Düsseldorf aus sein Deutschland-Geschäft auf.

Es tut sich etwas in der Region, die heute zwar nicht mehr das Herz der deutschen Gründerszene ist, aber dafür die Wiege. Hier haben viele Gründer ihre Wurzeln, hier haben viele Investoren die Schule besucht, hier hat mancher sogar sein erstes erfolgreiches Unternehmen aufgebaut.

Florian Heinemann zum Beispiel. Heinemann ist im Rheinland aufgewachsen, in Lohmar-Wahlscheid um genau zu sein. Heute ist er mit dem von ihm mitgegründeten Risikokapitalgeber Project A einer der bekanntesten Start-up-Investoren Deutschlands, und sitzt nebenbei als Digital-Experte in Beiräten von Schwergewichten wie dem Düsseldorfer Henkel-Konzern oder dem Bielefelder Familienunternehmen Dr. Oetker.

Nach dem Abitur studierte Heinemann an der privaten Hochschule WHU in Vallendar nahe Koblenz. Er brachte alles mit für eine akademische Karriere. “Wenn alles normal gelaufen wäre, hätte ich im September 1999 angefangen zu promovieren”, sagt er. Die entsprechende Assistentenstelle am Institut für Management und Controlling hatte er bereits zugesagt. Doch dann machte die Nachricht vom Alando-Verkauf der Samwer-Brüder an Ebay die Runde - und an der Hochschule in Vallendar, wo auch Oliver Samwer studiert hatte, entwickelte sich für einige eine spannende Karriereoption: Gründer.

Auch Heinemann machte sich damals mit Partnern selbstständig. Am Lehrstuhl seines potentiellen Doktorvaters hatte er Boris Wertz, Christian Langer und Hannes Blum sowie Malte Brettel kennengelernt, die ebenfalls promovierten bzw. habilitierten. Immer wieder mussten die Vier sich für ihre wissenschaftliche Forschung Bücher besorgen, die sie für ihre Arbeit als Literatur benötigten, etwa um Originalzitate nachzuschlagen. Das war damals mit viel Aufwand verbunden, weil man zahlreiche Bücher per Fernleihe ordern musste. So entstand die Idee einer Online-Börse für gebrauchte Bücher.

Und so begann Florian Heinemann im September 1999 nicht mit seiner Promotion, sondern wurde stattdessen zum Mitgründer eines Start-ups namens Justbooks, mit dem die WHU-Mitarbeiter ihre Idee von Düsseldorf aus umsetzen wollten.

Bereits einen Monat nach der Gründung im September ging der Marktplatz online - pünktlich zum Start der Frankfurter Buchmesse. Fortan konnten Händler ihre verfügbaren Titel in einer Datenbank hinterlegen, während Kunden dort nach ihnen suchen konnten - und Justbooks profitierte bei jedem Kauf in Form einer Provision von bis zu zehn Prozent des Umsatzes. Das Geschäft war so vielversprechend, dass das Gründerteam bereits im Juni 2000 eine englische Plattform und im März 2001 eine französische Version online gehen ließ.

Das Unternehmen wurde bereits am 1. Oktober 2001 vom kanadischen Wettbewerb Abebooks im Rahmen eines Aktientauschs übernommen. Gemeinsam bildete man fortan die weltgrößte Plattform für antiquarische Bücher, der später vom weltgrößten westlichen Online-Händler Amazon übernommen wurde.

Florian Heinemann hatte dem Unternehmen damals bereits den Rücken gekehrt, setzte seine Promotion fort und tauchte irgendwann dann doch wieder in die Start-up-Szene ein. Auch er investierte das Geld aus dem Justbooks-Verkauf wiederum in andere Start-ups – und finanzierte damit unter anderem die Idee von ein paar jungen Düsseldorfer Gründern, ein Reiseportal aufzubauen. Der Name des Unternehmens: Trivago.

Dieser Text enthält Auszüge aus dem Buch „Silicon Rheinland – wo die Wiege der deutschen Start-up-Szene wirklich liegt“. Das Buch von Florian Rinke ist 2020 im Redline-Verlag erschienen.

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