Wichtiger Standortfaktor Universitäten sind Treiber der Innovation in den Städten

Düsseldorf · Reichtum und Erfolg der Städte hingen früher von der geographischen Lage, von Eisenbahnlinien, Häfen oder Flughäfen, von Rohstoffen, vom Wagemut der Unternehmer, vom Selbstbewusstsein der Bürger und der Qualifikation der Arbeitskräfte ab. Doch zum alles überragenden Faktor zählt heute die Produktion von Wissen.

 An der Universität Aachen wird erforscht, wie schnelle Datenübertragung die Industrieproduktion voranbringen kann.

An der Universität Aachen wird erforscht, wie schnelle Datenübertragung die Industrieproduktion voranbringen kann.

Foto: RWTH

Der Ort der Wissensproduktion ist traditionell die Universität. Hinzu gekommen sind Fachhochschulen, staatliche Forschungsinstitute und die Labors der etablierten Unternehmen und der innovativen Start-ups. Daraus ist ein neues Geflecht entstanden, das als Ökosystem einer bestimmten Region oder Metropole einen entscheidenden ökonomischen Vorsprung verschafft. „Die Universität ist die oft unterschätzte Waffe im Kampf um Wettbewerbsfähigkeit und regionales Wirtschaftswachstum“, sagt der Amerikaner Richard Florida, einer der bekanntesten Städteforscher der Welt, der an der George-Mason University in Washington lehrt. Aus dem Zusammenspiel zwischen akademischen Institutionen und der Wirtschaft vor Ort entstand laut Florida der „kreative Kapitalismus“. Und es sind in seiner Vision der künftigen Stadtentwicklung vor allem die Kreativen, die eine Metropole voranbringen – die Architekten, Werbeschaffenden, Anwalts- und Wirtschaftsprüferkanzleien, Künstler, Filmproduzenten, Medienhäuser und vor allem die aus der Universität stammenden Gründer von Hightech-Unternehmen.

Das berühmteste Beispiel für ein Cluster rund um zwei wichtige Universitäten – die eher technisch orientierte Stanford University und die gesellschaftspolitisch einflussreiche Berkeley University – ist das Silicon Valley zwischen den kalifornischen Millionenstädten San Francisco und San Jose. Nach einer Studie des Beratungsunternehmens Startup Genome ist die Region noch immer der beliebteste Standort für Neugründungen. Aus Start-ups wie Hewlett Packard, Intel, Cisco, Apple, Google, Facebook oder Tesla sind längst Weltkonzerne gigantischen Ausmaßes geworden. Silicon Valley ist der innovativste Ort der Welt, der wie kein anderer die globale technologische Entwicklung beeinflusst.

Doch Orte, in denen Menschen erfolgreich sind, finden schnell Nachahmer. Und so machte das Beispiel der Universität als Treiber der Innovation Schule. Weitere Wissens-Hubs sind entstanden wie in New York, London, Peking, Boston oder Tel Aviv/Jerusalem. Überall standen bedeutende Universitäten am Beginn der Entwicklung. Der frühere Präsident der weltberühmten Harvard University, Derek Bok, betrachtete es sogar als die Pflicht der großen Bildungs- und Forschungsstätten, die Produktivität der Wirtschaft zu beschleunigen.

Auch in Deutschland hat sich das Modell etabliert. Als Start-up-Hauptstadt gilt Berlin mit seinen drei Exzellenz-Universitäten FU, TU und Humboldt. Um die TU München hat sich ein Cluster von Biotech-, IT- und anderen Hochtechnologieunternehmen gebildet. Bedeutende Antreiber der Innovationsszene sind das Karlsruher Institut für Technologie, die TU Darmstadt, die Universität Erlangen-Nürnberg, die TU Dresden oder im Finanzsektor das Frankfurter House of Finance als Ausgründung der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität.

Erst spät haben die Politiker im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen erkannt, welche Möglichkeiten die reichhaltige Universitätslandschaft zwischen Rhein und Weser bietet. Gründete der frühere Wissenschaftsminister und spätere NRW-Ministerpräsident Johannes Rau (SPD) im Ruhrgebiet noch eine Universität nach der anderen, so wurden die möglichen Transfers dieser Bildungsstätten für einen erfolgreichen Strukturwandel lange unterschätzt. Stattdessen wurden die alten Industrien geschützt und subventioniert. Neues hatte es da schwerer und siedelte sich woanders an – zum Beispiel im Rheinland.

Der große Leuchtturm hier ist die neben der TU München wohl beste technische Hochschule Deutschlands, die RWTH Aachen. Von ihr sagt der innovativ agile Rektor Ulrich Rüdiger: „Aachen lebt von der RWTH und umgekehrt. Sie hat die gleiche Bedeutung für die Stadt wie Bayer für Leverkusen oder BASF für Ludwigshafen.“ Die Hochschule ist inzwischen mit 10.000 Beschäftigten und 47.000 Studierenden mit Abstand der wichtigste Arbeitgeber der Stadt. „Die RWTH ist der maßgebliche Innovationstreiber in der gesamten Region und vor allem für Aachen“, ergänzt Rüdiger.

400 führende internationalen Technologiekonzerne haben in Aachen ein Büro oder eine Forschungseinrichtung, darunter so bekannte Namen wie Microsoft, Philips, Ericsson, Ford oder Amazon. Auf einer Fläche von 250 Hektar entsteht in der Stadt derzeit eine der größten Forschungslandschaften Europas. Campus Melaten, Campus West oder Campus Mitte heißen die Entwicklungsgebiete der RWTH. Dort kooperiert die Hochschule nicht nur mit Großkonzernen, sondern schafft auch Platz für eine Vielzahl von Ausgründungen. 90 Firmen will die Universität jedes Jahr ausspucken, 2020 gab es 75 Neugründungen, davor waren es 65.

Eine von diesen Firmen ist der Softwarehersteller Silexica. Das Unternehmen, an dem der Informatikprofessor Rainer Leupers mitwirkt, hat seit seiner Gründung 2014 schon etliche Finanzierungsrunden hinter sich, wurde mit Preisen überhäuft und produziert eingebettete Systemlösungen für die Telekommunikation. Mit seinen 60 Mitarbeitern hat es zwar die Umsatzschwelle von einer Million Euro noch nicht erreicht, aber Büros in Köln, Tokio und San Jose belegen, dass die Firma die globale Perspektive anpeilt.

Ein anderes Unternehmen ist Oculavis. Erst 2016 gegründet, hat es schon drei Millionen Euro Umsatz und 40 Mitarbeiter. Es stellt Industriesoftware für Datenbrillen und virtuelle Welten her. Damit lassen sich Maschinen aus der Ferne bedienen. Eine der bekanntesten Ausgründungen der RWTH ist der Halbleiterhersteller Aixtron, der mit 270 Millionen Euro Umsatz (2020) und 730 Mitarbeitern mittlerweile im Börsensegment M-Dax notiert ist – neben so Schwergewichten wie Thyssenkrupp, Airbus oder Metro. Aixtron wollten bereits die Chinesen kaufen, scheiterten aber am spektakulären Veto von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier.

Es ist keine Übertreibung, die Wirtschaft der alten Industriestadt Aachen, wo einst Talbot Eisenbahnwaggons herstellte und so bekannte Industrieunternehmen wie Zentis und Grünenthal Marmelade und Arzneimittel produzieren, inzwischen als Ökosystem rund um die RWTH zu betrachten. Die Sparkasse Aachen gibt eine große Zahl ihrer Unternehmenskredite und Fondsmittel an die Neugründer. Und in der Innenstadt nehmen die Gebäude und Parks der Universität, aber auch die studentischen Bars, Biergärten oder Gartenrestaurants einen wachsenden Raum ein. Zugleich ist die RWTH über Verbindungen zu den führenden US-Universitäten sowie einer speziellen Partnerschaft mit dem Indian Institute of Technology in Madras und der Tsinghua-Universität in Peking in den globalen Wissenswettbewerb eingebunden. In Europa arbeitet Aachen mit den führenden technischen Universitäten in Zürich (ETH), Mailand (Politecnico), Delft und Göteborg (Chalmers University) zusammen.

Die Universitätslandschaft in der Landeshauptstadt Düsseldorf hat nicht ganz die überragende Bedeutung der RWTH. Aber auch die Stadt der Konzernzentralen, der Mode und der Werbewirtschaft wird mehr und mehr von ihren akademischen Standorten beeinflusst. Modisch nennt der Telekommunikationskonzern Vodafone sein neugebautes Hauptquartier Campus. Das berühmte Life-Sciences-Center der Stadt Düsseldorf ist eng mit der Medizinischen und der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität verbunden. Unter der Ägide des umtriebigen Biophysikers und Düsseldorfer Professors Detlev Riesner wurden etliche Biotechnologie-Unternehmen gegründet. Das bekannteste ist das auf molekulare Diagnosetechnik spezialisierte Unternehmen Qiagen, das an der US-Technologiebörse Nasdaq notiert ist, und mit mehr als 5000 Mitarbeiter 2020 einen Umsatz von fast 1,6 Milliarden Euro erzielte. So ist in Düsseldorf und seinem Speckgürtel ein von der Universität inspiriertes Ökosystem für Biotechnologie und digitale Gesundheit entstanden. „Das Life Science Cluster gehört mit Branchengrößen wie Professor Riesner seit langem zu den wissenschaftlichen Stärken Düsseldorfs und der Umgebung“, erklärt die oberste Wirtschaftsförderin der Stadt, Theresa Winkels.

Doch in seiner Gesamtheit gründet sich die hervorragende wirtschaftliche Situation Düsseldorfs anders als in Aachen nicht nur auf die Forschungsstätten und akademischen Institutionen der Landeshauptstadt. „Wir setzen auf Forschung und Talentpool einer breiten Universitätslandschaft in unserer Region, die von der RWTH Aachen bis zur TU Dortmund reicht“, macht die Chefin des Amts für Wirtschaftsförderung deutlich. Diese Bündelung der Technologie aus der Region, so Winkels, mache Düsseldorf zu einem „der Zentren der Wissensregion Rhein-Ruhr“. Ihr Amt hat mit Andreas Brauer einen eigenen Key-Account-Manager für die Verbindung zu den Hochschulen eingestellt. Der wacht über den engen Austausch zwischen Wirtschaft und akademischer Welt. „Die Universität Düsseldorf hat Institute von Weltklasse. Die stehen in ganz enger Verbindung mit den in der Stadt ansässigen Unternehmen und bilden Cluster. Das trägt auch zur Profilschärfe der Universität bei“, meint der Mitarbeiter von Amtschefin Winkels.

Doch es sind nicht nur die großen Metropolen wie Ruhr, Düsseldorf oder Köln, die von der zunehmenden Verzahnung mit ihren Universitäten profitieren. Die Neugründung vieler Fachhochschulen in Städten wie Mönchengladbach, Krefeld, Gelsenkirchen oder Mülheim haben gerade strukturschwachen Kommunen die Möglichkeit gegeben, Studierende in ihre Regionen zu ziehen und das Qualifikationsniveau der Arbeitskräfte zu verbessern. Ein herausragendes Beispiel ist die Hochschule Rhein-Waal in Kleve und Kamp-Lintfort, die jetzt alte Industriestädte in ein akademisches Zeitalter führen soll. Erst 2009 gegründet, hat sie inzwischen mehr als 7000 Studierende und rund 400 Mitarbeiter, ist aber längst ein erheblicher Wirtschaftsfaktor in den Kreisen Kleve und Wesel.

Hochschul-Präsident Oliver Locker-Grütjen reicht das nicht. Die Hochschule soll jetzt mit einem akademischen Team um die beiden Initiatoren Lily Chambers (Professorin für Bionik) und Dietrich Darr (Professor für Agribusiness) ein AgroFood-Cluster für die Region aufbauen. In einem internen Wettbewerb hat sich das Projekt durchgesetzt und wirbt nun um Millionen an Landesmitteln. Mit namhaften Konzernen der Nahrungsmittelindustrie aus der Region wie Bofrost, Bonduelle, Dr. Oetker, Kühne oder Pfeifer & Langen, die alle Produktionsstätten am Niederrhein unterhalten, soll eine Forschungskooperation entstehen, die etablierte Unternehmen mit biologisch gewonnenen Rohstoffen für eine nachhaltige Ernährungsproduktion versorgen. „Wir wollen bei allen unseren Forschungs- und Transfer-Themen richtig Gas geben“, unterstreicht Locker-Grütjen die Planungen.

Mit dem für Forschung und Wissenstransfers zuständigen Vizepräsidenten Peter Kisters, einem Maschinenbau-Professor, ist ein Mann installiert, der die Wirtschaft der Region bestens kennt. „Wir haben einige Leuchttürme in der Forschung, die der Region zugutekommen. Hier binden wir viele Akteure ein, etwa jenseits der Grenze zu den Niederlanden hin, aber auch weltweit“, ist Präsident Locker-Grütjen überzeugt. Im ehemaligen Bergbaustandort Kamp-Lintfort ersetzt die Hochschule schon die alte Grube als zentraler Wirtschaftsfaktor. Dort unterhält sie das FabLab, ein Labor für die volldigitale Fabrik, an der Studierende die hochkomplexen Abläufe einer automatisierten und elektronisch gesteuerten Industrie 4.0 kennenlernen können. Der Hochschulpräsident hat große Pläne damit. „Hier wollen wir das FabLab mit dem Green FabLab zu einer Fab-Academy ausbauen als Innovations-Hub für Unternehmen in der Region.“

Es sind diese Impulse aus der akademischen Welt, die zunehmend den wirtschaftlichen Erfolg von Großstädten wie auch mittleren Kommunen bestimmen. Und es kommt noch eines hinzu: Die Universitäten ziehen Menschen aus anderen Gegenden in die Region. Sie sind Talent-Magnete. Die Hochschule Rhein-Waal etwa unterrichtet vornehmlich in englischer Sprache. Die Hälfte der Studierenden kommt aus dem Ausland – neben den Ländern der Europäischen Union vor allem aus Indien, Bangladesh, China oder Lateinamerika. Für Kamp-Lintfort oder Kleve, aber auch für Aachen, Köln oder Düsseldorf sind solche Zuzüge von außen entscheidend für die Vitalität der Städte. Kreative Talente sind eben die Faktoren im internationalen Städtewettbewerb, hat der US-Politikwissenschaftler Florida erkannt. Der Krieg um Talente wird auch kritisiert. Es bleibt aber die Tatsache, dass Universitäten sowohl die Ausbildung wie die Forschung als Rohstoff für die Zukunft der Metropolen bereitstellen. Was die Menschen der Stadtgesellschaft – in Nordrhein-Westfalen wie auch sonst in der Welt – daraus machen, ist dann ihre Sache.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort