Berlin Zwischen Union und Grünen ist neues Vertrauen gewachsen

Berlin · Eine schwarz-grüne Minderheitsregierung gilt als fast ausgeschlossen, doch nach einer Neuwahl könnte es ein solches Bündnis geben.

Etwa eine Stunde dauert es in der Nacht zum Montag, bis die Verbliebenen ihre Schockstarre überwinden. Nach Angela Merkel gibt CSU-Chef Horst Seehofer sein Statement ab. Er sagt Dinge, die man sich so vor der Bundestagswahl nicht hatte vorstellen können. Eine Einigung der vier Parteien sei "zum Greifen nahe" gewesen, sagt Seehofer. Die Grünen hätten sich auch in der schwierigen Zuwanderungsfrage maximal kompromissbereit gezeigt. Am Ende dankt Seehofer ausdrücklich der Kanzlerin für ihre Bemühungen in den vergangenen Wochen. Die umstehenden Unionsleute beginnen zu klatschen, aber nicht nur die: auch Jürgen Trittin, Claudia Roth und andere Grüne, die am Rande dabeistehen.

Es ist etwas gewachsen zwischen Union und Grünen in diesen Wochen: Man hat Vertrauen gewonnen, begegnet sich jetzt mit größerem Respekt. Union und Grüne hätten verstanden, dass eine Koalition nur funktioniere, wenn man sich von Maximalpositionen verabschiede, sagt Grünen-Parteichef Cem Özdemir am Tag nach dem Erdbeben. Seine Partei sei in den Verhandlungen "bis an die Schmerzgrenze gegangen, für manche von uns auch über die Schmerzgrenze hinaus". Doch diese Bereitschaft "beruhte nicht auf Gegenseitigkeit", erklärt Özdemir mit Blick auf die FDP.

In der Nacht lächelt Merkel noch der jungen Grünen-Politikerin Agnieszka Brugger zu. Sie sagt zu Grünen-Fraktionsgeschäftsführerin Britta Haßelmann: "Das ist auch so eine Kämpferin." Dafür wird sie von Claudia Roth umarmt. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter scherzt mit CDU-Finanzminister Peter Altmaier und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Man schätzt sich.

Sollte es zu Neuwahlen kommen, hält die frühere Grünen-Chefin Roth deshalb jetzt ein neues Miteinander zwischen Union und Grünen für möglich. "Bei Union und Grünen ist trotz politischer und kultureller Unterschiede eine Form des gegenseitigen Respekts entstanden", sagt Roth. "Vor Neuwahlen haben wir keine Angst." Die Absage der FDP sei inszeniert, sagt Roth. "Das war ein wohl inszenierter Ausstieg der FDP. Das ist bedauerlich."

Am entscheidenden Sonntag sind die Grünen nach eigener Darstellung sogar bereit, in der für sie schwierigen Frage des Familiennachzugs für Flüchtlinge nochmals auf Union und FDP zuzugehen. Schon während des Tages hatten sie die Partner mit dem Zugeständnis überrascht, dass man sich beim Flüchtlingszuzug an einer flexiblen jährlichen Obergrenze orientieren könne, ohne dabei die Zahl 200.000 zu nennen. Zudem lenken die Grünen ein, als es um die Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsstaaten geht. Selbst die von der Union geforderten Rückführungszentren für Asylbewerber schlucken sie. Für die allerletzte Gesprächsrunde, zu der es kurz vor Mitternacht wegen der FDP dann nicht mehr kam, habe man den "klaren Auftrag" aus der Partei erhalten, den anderen nochmals weiter entgegenzukommen, berichten die Spitzenleute Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir.

Auch beim Soli gestand Schwarz-Grün der FDP sehr viel zu. Konsens war bereits, so die übereinstimmende Darstellung aus verschiedenen Parteien, den Soli im Volumen von vier Milliarden im Jahr 2020 und zehn Milliarden 2021 abzuschmelzen. Damit hätte man eine Entlastung für 75 Prozent aller Steuerzahler gehabt. Unklar war noch der weitere Soli-Abbau nach 2021. An dieser Stelle habe man es verpasst, sich schon am Freitag "per Handschlag" zuzusichern, dass der Soli danach auf jeden Fall auslaufen werde, sagt ein Unionsmann. Özdemir berichtet, die Grünen seien bereit gewesen, am Ende noch etwas mehr Entlastung in dieser Legislaturperiode draufzulegen und den kompletten Soli-Abbau gesetzlich zu fixieren.

Es gibt unterschiedliche Erzählungen, warum eine schwarz-grüne Koalition nicht bereits 2013 geklappt hatte. In der Union heißt es, es sei an den Grünen und vor allem am Parteilinken Trittin gescheitert. Aus Sicht der Grünen war es damals die CSU, die blockierte. Fest steht, dass Merkels Vertrauter Altmaier immer schon an einer schwarz-grüne Koalition gearbeitet hat. Auch bei diesen Sondierungen war es Altmaier, der immer wieder Brücken zu den Grünen baute. So legte er einen eigenen Vorschlag auf den Tisch, wie der von den Grünen geforderte Kohleausstieg funktionieren könnte. Merkel und Altmaier waren den Grünen weit entgegengekommen, indem sie sich bereiterklären, sieben Gigawatt Braunkohlestrom vom Netz zu nehmen - mehr als die Kohleländer NRW, Brandenburg und Sachsen bereit waren zu geben.

Bei den Grünen war die Lage diesmal völlig anders als 2013. Mit Özdemir und Göring-Eckardt waren zwei Vertreter des moderaten Realo-Flügels die Anführer. Nach zwölf Jahren Opposition wollte die gesamte Partei wieder mitregieren, auch Parteilinke wie Trittin und Roth. Die Grünen hatten verstanden: Nur in der Regierung würden sie wichtige eigene Ziele umsetzen.

Durch die veränderte Lage wäre jetzt theoretisch sogar eine schwarz-grüne Minderheitsregierung denkbar, doch die wollen weder die Union noch die Grünen wirklich riskieren. Am ehesten, sagt Göring-Eckardt, komme es zu Neuwahlen. Im nächsten Wahlkampf wollen die Grünen wieder mit ihrem bisherigen Zehn-Punkte-Programm antreten. Wieder wird es ihnen vor allem um den Klimaschutz und den Kohleausstieg gehen. Mit Merkel und Altmaier - das wissen die Grünen nach den Sondierungen - könnten sie genau das umsetzen.

(brö/kd/mar)
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