Zwei Künstler verfallen dem Rausch
Wenn Anouk van Dijk und Falk Richter gemeinsam Theater machen, dann treffen Schauspieler auf Tänzer und Texte auf Bewegung. Geprobt wird anfangs mit freien Improvisationen: Richter gibt Textbausteine vor, van Dijk Bewegungen; was die Darsteller daraus machen, wird auf Video aufgenommen. Aus diesen Improvisationen entwickeln die beiden Künstler dann ein Stück. "Rausch" ist ihr viertes Projekt. Ein Gespräch über die Kontrollversessenheit unserer Zeit und die Angst vor dem Rausch der Liebe.
Womit beginnen Sie, wenn Sie ein neues Stück erarbeiten?
Richter Wir telefonieren, reden darüber, was gerade in der Welt los ist und in unserem eigenen Leben. Dann finden sich schnell Themen, Schlüsselbegriffe, mit denen wir weiterarbeiten.
Diesmal war "Rausch" so ein Schlüsselbegriff – was verstehen Sie darunter?
Richter Rausch ist ein Zustand, in dem alle Kontrolle aussetzt, die Ratio nicht mehr funktioniert. Das kann positiv sein, weil man dann alles intensiver erlebt wie etwa beim Liebesrausch. Man spürt dann das Leben an sich, in dem der Zufall waltet.
Van Dijk Rausch bedeutet Grenzüberschreitung – auch von einem Künstler zum anderen. Wenn bei uns Tänzer und Schauspieler zusammenkommen, sich gegenseitig inspirieren, gemeinsam kreativ werden, dann ist das ein Rausch, eine Befreiung.
Kontrollverlust kann auch bedrohlich wirken.
Richter Ja, auch die Wirtschaft, das Finanzsystem, die Gesellschaft können außer Kontrolle geraten. Es gibt auch den Spekulationsrausch, den Machtrausch. In unserem Stück wird es um beide Aspekte gehen und um die Frage, wo es in unserer durchgetakteten, verplanten Welt überhaupt noch Raum gibt für den Rausch.
Wo sehen Sie solche Räume?
Richter Sie öffnen sich, wenn Menschen sich gesellschaftlicher Kontrolle entziehen, samstags feiern oder sich einmal im Jahr gehenlassen und das Karneval nennen.
Ich dachte, Sie nennen als erstes das Theater als Freiraum für den Rausch.
Richter Theater kann diesen Freiraum bieten. Das hat es früher schon getan, man denke nur an das antike Theater, man kann natürlich auch in einen Denkrausch, Musikrausch, Probenrausch geraten. Uns geht es aber auch um die gesellschaftliche Dimension: Das Bedürfnis, Unvorhersehbares zu erleben, ist vorhanden in unserer Gesellschaft, aber es wird gegenwärtig meist umgeleitet in den Arbeitsrausch, den Gewinnrausch, den Konsumrausch. Berauschende Gefühle wie die Liebe dagegen versuchen wir zu kontrollieren, zu kalkulieren, wir unterwerfen sie der Logik unseres Systems – der Effizienz.
Es geht also auch um die Liebe und die Angst vor der Liebe?
Richter Ja, das hatten wir gar nicht beabsichtigt, aber bei den Improvisationen während der Proben sind wir auf all diese Erscheinungsformen moderner Liebe gestoßen, die Bindungsangst, die Partnersuche im Internet, bei der sich die Leute verhalten wie Konsumenten, die mit möglichst wenig Aufwand etwas möglichst Perfektes bekommen wollen.
Van Dijk Dieses Netzwerk Internet hat mich als Choreografin sofort interessiert, weil es im Tanz auch um die Beziehung zwischen Menschen geht, um Anziehung und Auseinanderdriften, um komplexe Machtspiele und fragile Balancen. Was Menschen bei der Partnersuche erleben, wie sie miteinander umgehen, das ist im Tanz sehr gut darstellbar.
Wie bringen Sie Schauspieler aus dem Sprechtheater dazu, ihren Körper als Ausdrucksmittel zu nutzen?
Van Dijk Wir improvisieren einfach drauf los, in einem offenen Prozess. Das liegt natürlich nicht jedem Schauspieler, aber manche finden es befreiend, wenn sie nicht in feste Figuren gezwängt werden, sondern ihre Rollen mitentwickeln.
Richter Unsere Proben sind manchmal wie eine Jazz-Session, da entwickelt sich dann eine ungeheure Energie und Dynamik. Da ist unsere Arbeit selbst wie ein Rausch.