"Wir lebten in ständiger Angst"

Gestern war er spazieren, in seiner Heimatstadt, die ihn 1941 vertrieben hat. Er kann die Stadt genießen. Damals, sagt der Mann aus Las Vegas, der 1928 als Günter Richard Wolff geboren wurde, "war damals. Jetzt ist jetzt. Ich kann das trennen."

Immobilienmakler ist er heute in Amerika, hat eine Frau und zwei Kinder, und auch mit ihnen ist er schon hier gewesen, hat ihnen Düsseldorf gezeigt, das auch für seine Familie so etwas wie Heimat geworden ist. Nur zum Schlachthof, sagt der Senior in noch immer flüssigem Deutsch, muss er nicht noch einmal, nach diesem kalten Oktober-Sonntag 1941. "Obwohl es nicht die schlimmste meiner Stationen war."

Der Weg ins Grauen begann mit einem Spießrutenlauf durch die Nachbarschaft, in der Günter aufgewachsen war. Vier Tage lag sein 13. Geburtstag zurück, an dem jüdische Jungens zum Mann werden. Die Familie Wolff, die einen Textilhandel an der Immermannstraße führte, war nicht sonderlich fromm. Vater Eduard ging in Synagoge "wenn er konnte", und auch die Bar Mitzwa des Sohnes sollte gefeiert werden. Aber eine große Rolle hatte das Jüdischsein in ihrem Leben nicht gespielt. Bis die Nazis 1938 ihre Wohnung zertrümmerten und die Möbel auf die Straße warfen. "Danach war da nur noch Angst." An jenem Sonntag standen sie schweigend da und starrten die Menschen an, die mit dem gelben Stern an den Mänteln durch die Kälte nach Derendorf marschierten. "Als wären wir Tiere im Zoo, ohne jede Freundlichkeit", erinnert er sich genau. So wie an die Zugfahrt in den ungeheizten Waggons, in denen sich Eisblumen an den Fenstern bildeten. Und an die Streitereien in der Schule in Lodz, in der die Familie mit 60 anderen ein Klassenzimmer bewohnte. "Um jeden Zentimeter wurde gekämpft."

Einmal am Tag gab es Kohlsuppe. Wer arbeitete, bekam zweimal Essen. Günter meldete sich zur Arbeit im Sägewerk, auch sein Vater ging hin, dann meldete sich die Mutter zur Arbeit. Als die Familie 1942 zur "Aussiedlung" vorgesehen war, verhinderte Eduard Wolff das, indem er seine Weltkriegsauszeichnungen vorlegte. Später zerrte er Günter von einem Lkw herunter, mit dem Kinder abtransportiert werden sollten. Aber 1944 wurde die Familie nach Auschwitz gebracht. "Ich wusste nicht, was mich erwartet. Ich hatte noch nie davon gehört."

An der berüchtigten Rampe sah er seine Mutter zum letzten Mal. Der Vater starb im Oktober 1944. Günter überlebten, kam über ein Außenlager nach Buchenwald, als Zwangsarbeiter in ein Benzinwerk nach Thüringen, schließlich nach Theresienstadt, wo er am 8. Mai 1945 befreit wurde.

"Niemand kann sich vorstellen, wie es damals war," sagt Gary Wolff. Deshalb sei wichtig, dass es Projekte wie das der Mahn- und Gedenkstätten gibt. "Sonst verwässert die Erinnerung."

(RP)
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