Ronald Lünser im Interview VRR-Chef rechnet mit "Jahrzehnt der Baustellen"

Gelsenkirchen · Seit gut 100 Tagen ist Ronald Lünser Chef vom Verkehrsverbund Rhein-Ruhr. Er stammt aus einer echten Eisenbahner-Familie und wurde selbst Lokführer. Ein Gespräch über seine neue Aufgabe als VRR-Chef.

 Ronald Lünser, Jahrgang 1964, stammt zwar aus Pasewalk in Mecklenburg-Vorpommern, lebt aber schon sein halbes Leben lang in Dortmund.

Ronald Lünser, Jahrgang 1964, stammt zwar aus Pasewalk in Mecklenburg-Vorpommern, lebt aber schon sein halbes Leben lang in Dortmund.

Foto: Volker Hartmann/FUNKE Foto Servi

Herr Lünser, was ist nach 100 Tagen im Amt Ihre wichtigste Erkenntnis?

Lünser Ich komme immer noch an. Ich bin noch ein Lernender.

Ernsthaft? Sie sind doch Eisenbahner und kennen als früher Chef von Abellio NRW das System.

Lünser Ja, aber jetzt bin ich Teil der staatlichen Verwaltung. Ich beschäftige mich auf einmal mit Dingen wie Investitionsfördermaßnahmen und Zuwendungsbescheiden. Da reicht das Spektrum von der barrierefreien Bushaltestelle bis zu einem ausgewachsenen Brückenzug. Das ist komplex, vielfältig und macht den Job so spannend.

Sie haben gleich zu Beginn die DB Regio, die Nordwestbahn und Keolis abgemahnt. Wieso ein derart hartes Durchgreifen?

Lünser Im letzten Quartal 2018 haben wir massive Qualitätseinbrüche festgestellt. Dass wir nicht mehr die zugesagten Leistungen bekommen haben, hat mich massiv geärgert. Ich wollte es nicht damit bewenden lassen, Strafzahlungen einzubehalten. Deshalb habe ich den Unternehmen öffentlich die gelbe Karte gezeigt.

Mit dem erwünschten Erfolg?

Lünser Ja. Das hat sie nicht kalt gelassen. Bei DB Regio wurde eine Task Force eingerichtet. Dort war das Problem vor allem das Technikversagen durch zu wenig Werkstattpersonal und eine schlechte Ausstattung mit Ersatzteilen. Inzwischen stellen wir eine erhebliche Verbesserung bei der Fahrzeugbereitstellung fest, auch wenn wir noch nicht beim Optimum sind. Ersatzteile, die vorher für Bayern vorgesehen waren, kommen jetzt nach NRW.

Was waren bei der Nordwestbahn und Keolis die Probleme?

Lünser Die waren personalbedingt. Das Management beider Unternehmen hat zu lange offensichtliche Engpässe ignoriert. Die Verantwortlichen haben versucht, diese durchzumogeln. Deshalb habe ich ihnen externe Berater ins Haus geschickt.

Auf welche Firmen haben Sie dabei gesetzt?

Lünser Das müssen nicht zwangsläufig Eisenbahner sein. Es geht ja vor allem um die Organisation der Abläufe. Wir haben uns für den Tüv entschieden.

Wären Sie bereit – auch damit die Abmahnung ihren Schrecken nicht verliert – einen Verkehrsvertrag zu kündigen?

Lünser Absolut. Aber das wäre die Ultima Ratio. Wenn es auf einer bestimmten Linie nicht läuft, warum sollte man diese dann nicht dem Unternehmen dauerhaft oder vorübergehend entziehen? Das ist juristisch zwar kniffelig, aber machbar. Darüber hinaus gibt es ja noch weitere Wege, um ans Ziel zu kommen.

Welche?

Lünser Wir müssen das Strafzahlungs-Modell ändern. Wenn sich heute jemand vor einen Zug wirft, wird das Unternehmen für den Zugausfall bestraft, obwohl es nichts dafür kann. Anders sieht es beim Thema Lokführer aus. Natürlich muss das Unternehmen sicherstellen, dass ein Triebfahrzeugführer im Zug ist. Solche Unterschiede müssen in einem künftigen Modell berücksichtigt werden.

Sie hatten zuletzt auch Prämien bei Besserleistung ins Spiel gebracht.

Lünser Wenn wir Pünktlichkeitswerte von 93 Prozent ausschreiben, könnte man doch alles, was darüber geleistet wird, auch prämieren.

Ein Teil der Verspätungen hängt mit der massiven Bautätigkeit der Bahn zusammen. Was überwiegt bei Ihnen: Freude darüber oder Frust?

Lünser Es war bitter nötig, dass wieder Milliarden in die Schiene in NRW fließen. Streckenstilllegungen seit der Jahrtausendwende und das Fahren auf Verschleiß haben dazu geführt, dass das System am Limit ist. Ein hausgemachtes Problem also. Nun ist ein Jahrzehnt der Baustellen angebrochen – mit Großprojekten wie dem Umbau des Knotens Köln, dem RRX-Ausbau und der Betuwe-Linie. Hinzu kommen kleinere Projekte und in Summe sind es dann knapp 1000. Dass grundsätzlich investiert und gebaut wird freut mich zwar, aber wir werden Bauzustände haben, in denen über Wochen auf mancher Linie gar nichts fährt.

Wie beurteilen Sie das Baustellenmanagement der Deutschen Bahn?

Lünser Früher war ich ein dogmatischer Anhänger von „Bauen unterm rollenden Rad“ - also längere Baustellenphasen, in denen Schienen offengehalten wurden, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. In der heutigen, extrem angespannten  Situation fährt man mit der radikaleren „Augen zu und durch“-Methode besser. Wenn man einen ordentlichen Ersatzverkehr hinbekommt, ist die kurzzeitige Vollsperrung das kleinere Übel. Wir brauchen schnell spürbare Verbesserungen.

Transdev übernimmt Anfang Dezember den Vertrieb für die VRR-Tickets. Rechnen Sie mit einem reibungslosen Übergang?

Lünser Ich war zunächst unsicher, als ich im vergangenen Sommer die Berichte aus Hessen gelesen habe. Da hatte Transdev Softwareprobleme an den Fahrkartenautomaten, die Automaten wurden nicht rechtzeitig geleert und mit Wechselgeld bestückt. Fahrscheine sind zudem nicht erkannt worden. Inzwischen hat das Unternehmen aber dazugelernt.

Kunden müssen an Bahnhöfen künftig VRR-Tickets und Fernverkehrstickets in unterschiedlichen Shops kaufen. Kundenfreundlicher wäre eine einheitliche Lösung gewesen.

Lünser Das stimmt. Aber Sie müssen das große Ganze sehen: Die DB Regio ist nicht nur bei dem Verkehrsangebot deutlich geschrumpft, sondern auch beim Vertrieb.  De facto hätte nach dem Auslaufen des Vertrags mit ihr jeder neue Bahnbetreiber einen eigenen Vertrieb aufbauen müssen. Dann hätten sieben Automaten nebeneinander gestanden. Wir wollten den Vertrieb aus einer Hand. Und da der größte Teil unserer Kunden eh Abonnenten sind, werden sich die Schmerzen in Grenzen halten.

Wie sinnvoll ist es, dass sich das bevölkerungsreichste Bundesland drei Verkehrsverbünde leistet?

Lünser Ich bezweifele, dass ein NRW-weiter Verbund besser wäre. Vielfalt und dezentrale Strukturen sind nicht per se schlecht. Durch eine Fusion würde man nämlich nichts sparen. Wir haben kein operatives Geschäft, sondern sind drei hochmoderne Managementgesellschaften. Die Arbeit, die da ist, muss gemacht werden. Wir müssen allerdings die Verbandsperspektiven häufiger hintenanstellen und stattdessen mehr die Sicht des Kunden einnehmen.

Und der will ohne Tarifwirrwarr quer durch NRW fahren.

Lünser Ja, das Tarifsystem muss einfacher werden. Die Hürden für Spontanfahrer sind zu groß. Selbst mir fällt es schwer, die Vielzahl der Tarife zu durchschauen. Bei allen Vereinfachungen müssen wir aber im Blick behalten, dass wir einen Tarif benötigen, um unser Leistungsangebot zu finanzieren. Und das wird immer herausfordernder: Die gesamte Betriebsleistung ist in den vergangenen 20 Jahren zwar um eindrucksvolle 35 Prozent gestiegen, die Beförderungsleistung zeitgleich aber um 85 Prozent. Viel mehr Menschen fahren im VRR-Gebiet mit Bus und Bahn. Das bringt das System an seine Grenzen.

Wenn wir schon beim Thema Vereinheitlichung sind: Gibt es realistische Chancen dafür, die Stadtbahn-Netze mit ihren unterschiedlichen Spurbreiten durchgängig befahrbar zu machen?

Lünser Vereinheitlichung klingt immer schön. Gleiche Fahrzeuge, gleiche Instandhaltung, gleiche Logistik – das wäre super. Ist das realistisch? Nein. Und echte Systembrüche, also Orte, an denen der Fahrgast umsteigen muss, weil es unterschiedliche Spurbreiten gibt, existieren im VRR vier. Das halte ich für verkraftbar. Wenn man schon Geld ins System stecken will, dann sollte man es in modernere Züge stecken, denn die stammen zumeist aus den 70er- und 80er-Jahren.

Der Bau der Regiobahn Mettmann verzögert sich. Was läuft falsch?

Lünser Ganz formal bin ich seit wenigen Tagen darüber informiert, dass die Betriebsaufnahme erst ein Jahr später erfolgt, weil die Infrastrukturgesellschaft nicht vorankommt. Da es sich um eine neue  und keine Bestands-Strecke handelt, ist die Situation zwar aus VRR- und Fahrgastsicht extrem ärgerlich, zugleich aber verkraftbar für die Region.

Wie zuversichtlich sind Sie beim Thema RRX-Ausbau? Die Angermunder machen ja ordentlich Rabatz.

Lünser Es ist wichtig, die Bürger zu beteiligen, sonst hat man schnell  ein zweites Stuttgart 21. Ich wünsche mir, dass es keine weiteren großen Szenarien wie in Angermund gibt. Ich verstehe die dortigen Bürger, deren aktuelle Situation nicht tragbar ist. Aber mit dem Projekt kommen zwei neue Gleise und damit auch entsprechende Schallschutzmaßnahmen. Ich verstehe auch, dass die Angermunder keine Berliner Mauer durch ihren Ort haben wollen. Ich hoffe, dass sich Bahn und Bürger schnell einigen. Die Proteste hemmen den Fortgang des RRX, aufhalten werden sie ihn jedoch nicht.

Viele ländliche Räume, in denen die Firmen schon unter Fachkräftemangel leiden, profitieren nicht vom RRX. Ist die Ausrichtung des Projektes nicht viel zu einseitig?

Lünser Durchaus. Aber das ist historisch so gewachsen. Die Nord-Süd-Verbindung wurde immer etwas stiefmütterlicher behandelt. Das merkt man daran, dass zwei wichtige Oberzentren wie Dortmund und Münster nur eingleisig miteinander verbunden sind.  Doch wir gehen das jetzt an: Wir schreiben das Niederrhein-Münsterlandnetz aus, dass wir 2025/26 an den Start bringen wollen. Große Teile dieses Netzes wollen wir übrigens mit alternativen Antrieben bewältigen.

In Rede standen schon einmal wasserstoffbetriebene Züge.

Lünser Das ist wieder vom Tisch, weil es sich wirtschaftlich nicht darstellen ließ. Wir wollen stattdessen Hybrid-Fahrzeuge einsetzen: Mit Batterie und Oberleitungsnutzung. Der Vorteil: Man könnte damit die nicht elektrifizierten Strecken überbrücken. Das planen wir gerade. Wir reden über etwa 50 Fahrzeuge. Und es dürfte sich um 12 bis 15 Millionen Zugkilometer handeln. Kein kleines Netz.

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