Düsseldorf/Dinslaken Vom Drogendealer zum IS-Kämpfer

Düsseldorf/Dinslaken · Der Dinslakener Nils D. (25) kämpfte mehr als ein Jahr lang für den Islamischen Staat in Syrien. Vor Gericht packte er gestern aus. Er schilderte, wie es soweit kommen konnte.

Es ist 10.04 Uhr, als eine Nebentür des Sitzungssaals im Hochsicherheitstrakt des Düsseldorfer Oberlandesgerichts aufgeht und ein knapp 1,90 Meter großer, untersetzter Mann von zwei Justizvollzugsbeamten in den Verhandlungsraum geführt wird. Er schlendert mehr, als dass er geht. Der Mann hält sich einen Aktenordner vors Gesicht. Erst als die Fotografen ihre Bilder im Kasten haben, nimmt er ihn runter. Zum Vorschein kommt ein freundliches, rundliches Gesicht mit Nickelbrille. Das Erscheinungsbild passt so gar nicht zu den Vorstellungen, die man allgemein über einen Kämpfer des Islamischen Staates (IS) hat. Nils D. sieht fast schon zu normal aus. Er trägt Turnschuhe, Jeans, ein rotes Hemd und einen grauen Strickpullover. Ein gemütlicher Typ mit Kurzhaarfrisur. "Guten Morgen, Herr D.", begrüßt ihn die Senatsvorsitzende. "Kommen Sie ruhig nach vorne zu uns. Sie brauchen nicht hinter dem Sicherheitsglas sitzen. Von Ihnen geht keine Gefahr aus."

Nils D., 25 Jahre alt, ehemaliges Mitglied der islamistischen "Lohberger Gruppe" aus Dinslaken, ist derjenige, der gefährdet ist. Er steht auf der Todesliste des IS, weil er ausgepackt hat. Der Polizei und den Geheimdiensten hat der ehemalige Anhänger der Terrormiliz, der im Januar 2015 in seiner Heimatstadt Dinslaken nach der Rückkehr aus Syrien festgenommen worden ist, in nahezu 40 Verhören geheime Informationen über die Strukturen des IS verraten. Für die Sicherheitsbehörden gilt er als eine der wichtigsten Quellen. Darum findet sein Prozess auch im Hochsicherheitstrakt des Oberlandesgerichts statt. Das Gebäude gleicht einer Festung mit Hubschrauberlandeplatz und ist umstellt von Polizisten mit Maschinenpistolen.

Die deutsche Justiz will Nils D. wegen seiner Mitgliedschaft im IS für lange Zeit ins Gefängnis stecken. Die Generalbundesanwaltschaft wirft ihm unter anderem vor, einer Spezialeinheit der Terrororganisation angehört zu haben. Als Mitglied eines Sturmtrupps habe er Spione und Deserteure mit Waffengewalt festgenommen und Gefängnissen des IS zugeführt. Er sei auch als Wachmann eingesetzt gewesen: "Der Angeklagte wusste, dass die Gefangenen der Folter bis zum Tod ausgesetzt waren. Er hatte Einblick in die Folterkammer. Er beerdigte einen zu Tode gefolterten Gefangenen, indem er die Leiche aus der Kühlkammer holte und auf einer Müllkippe in einem Erdloch vergrub", sagte die Vertreterin der Bundesanwaltschaft, Carola Bitter.

Nils D. hat zuvor bereits als Zeuge in zwei Terrorprozessen ausgesagt. Viele der Vorwürfe gegen ihn hat er da schon zugegeben. "Für mich sind eine Reihe von Fragen offen geblieben, und die werde ich Ihnen auch stellen, obwohl Sie schon unendlich viele Fragen beantwortet haben", sagte die Vorsitzende Richterin gestern. Sie will vor allem wissen, wie ein Dinslakener Hauptschüler aus einem evangelischen Elternhaus zu einem IS-Kämpfer werden konnte. Nils D. ist bereit, es ihr zu erklären.

Wie so oft beginnt auch seine Geschichte mit der Trennung der Eltern. Sein Vater verlässt die Familie für eine andere Frau, als Nils D. 15 ist. Der Vater lässt ihn mit seinen beiden älteren Schwestern bei der Mutter zurück, die als Servicekraft in einer Krankenhaus-Cafeteria in Dinslaken arbeitet. Die Familie hat wenig Geld. Es gibt Streit um die Unterhaltszahlungen. Der Kontakt zum Vater reißt ab. D. besucht ihn nur, wenn er Geld braucht. Und das braucht er eigentlich immer, vor allem für seine Drogen, zu denen er nun immer öfter greift. Marihuana. Amphetamine, Kokain - er habe sich alles "reingepfiffen", sagt er. Alkohol natürlich auch. Er ist oft betrunken. Es kommt immer häufiger zum Streit mit seiner Mutter. Er wird mehrfach straffällig. Für Drogenhandel bekommt er vom Jugendrichter eine Bewährungsstrafe von sechs Monaten. Wegen Körperverletzung - "Ich habe jemandem eine reingehauen" - muss er Sozialstunden ableisten. Er frisiert seinen Roller, klaut eine Handtasche und wird erwischt. "Ich habe da nur Blödsinn gemacht", sagt er.

Zu dem Zeitpunkt geht er noch zur Hauptschule. Er ist ein mittelmäßiger Schüler, geht aber gerne hin, weil er dort Freunde hat, eine "echte Clique", wie er sagt. Auch seine erste Freundin lernt er dort kennen. Sie bekommen ein Kind, ein Mädchen. Beide sind selbst noch Kinder, er 15, sie 16. Die Beziehung zerbricht kurz nach der Geburt. Das Kind wächst bei der Mutter auf. Nils D. hat bis heute kaum Kontakt zu seiner Tochter.

Mit 17 Jahren schafft er irgendwie seinen Schulabschluss. Er weiß nicht so recht, wie es für ihn weitergehen soll. Eine Ausbildung? Weiter zur Schule gehen und einen Realschulabschluss dranhängen? Eine seiner Schwestern besorgt ihm schließlich eine Ausbildung als Anlagemechaniker bei einem ihrer Freunde. Es sei vielleicht ein Gnadenbrot gewesen, ihn zu nehmen, meint Nils D. im Nachhinein. Die Arbeit macht ihm Spaß, nur sein Chef ist nicht zufrieden mit seinen Leistungen - seinen schulischen. "Ich war ein Kiffer, da hat man auf Berufsschule kein Bock", sagt Nils D. über diese Zeit. Er wird deswegen nach elf Monaten rausgeworfen und weiß nun nichts mehr mit sich anzufangen. Zwei Jahre lang lebt er nur in den Tag hinein. Er schläft bis mittags, liegt der Mutter auf der Tasche, kifft und trifft sich mit Freunden in einem Internetcafé. Die Bundeswehr bestellt ihn zur Musterung ein. Er fällt durch, weil er Kiffer ist. Das ist ihm recht, so kann er weiter nichts tun.

Irgendwann 2011 herum, so genau kann sich Nils D. nicht mehr erinnern, kommt er erstmals in seinem Leben richtig mit dem Islam in Kontakt. Sein Cousin Philip B., ein Pizzabote, der wie ein Bruder für D. ist, versucht, ihm die Lehren des islamischen Glaubens näherzubringen. Nils D. hält das zunächst für völligen Blödsinn, brüllt seinen Cousin sogar mehrfach an, streitet sich heftig mit ihm, weil dieser ihn mit "dem ganzen Islam-Quatsch" auf die Nerven geht. "Ich habe ihn gefragt, ob er beweisen kann, dass es Gott gibt. Konnte er natürlich nicht. Dann wollte ich nichts mehr davon hören", sagt Nils D. heute. Sein Cousin habe ihn nicht bekehrt. Stattdessen habe er durch eine 60-teilige Dokumentation über die Illuminaten, die er im Internet gesehen haben will, zum Islam gefunden. "Dieser Geheimbund geht davon aus, dass es den Teufel gibt. Das habe ich dann auch geglaubt. Daraus habe ich dann geschlussfolgert, dass es dann automatisch auch einen Gott geben muss", erklärt Nils D. Das sei der "Beweis" gewesen, den sein Cousin ihm nicht geben konnte. Von nun an lässt ihn der Islam nicht mehr los. Er liest den Koran und islamische Bücher und konvertiert. Er besucht Moscheen in Dinslaken, Duisburg und Wesel. Im Internet schaut er Videos des Salafistenpredigers Pierre Vogel. Sein Freund Mustafa K. nimmt ihn irgendwann mit zu einem Treffen von Glaubensbrüdern. Sie treffen sich in einem angemieteten Büro in Dinslaken-Lohberg, das sich im selben Gebäude befindet, in dem bis heute noch der städtische Integrationsrat der Stadt untergebracht ist - also ausgerechnet die Institution, die sich darum kümmert, dass Jugendliche nicht in den Salafismus abrutschen. Damals kommen dort jeden Freitag rund 25 junge Männer zusammen, um über den Islam zu sprechen. Es ist die Geburtsstunde der "Lohberger Gruppe", benannt nach der Bergbausiedlung mit hoher Arbeitslosenquote und hohem Migrantenanteil. Viele Mitglieder sind im Kampf für den IS ums Leben gekommen - auch Philip B.

Anfang 2013 wird Nils D. von seiner Vergangenheit eingeholt. Für einen Einbruch in eine Bäckerei muss er vom 2. Januar bis zum 10. Juni 2013 ins Gefängnis. Als er wieder rauskommt, ist die Hälfte seiner Glaubensbrüder, darunter sein Cousin Philip B. und sein enger Vertrauter Mustafa K., nach Syrien gereist und lässt sich in Terrorcamps ausbilden.

Nils D. sammelt zunächst Spenden für salafistische Organisationen wie den Verein "Helfen in Not". Nach zwei Monaten in Freiheit fasst er dann aber auch den Entschluss, nach Syrien zu gehen. Ein Rückkehrer der "Lohberger Gruppe", den er im Spätsommer 2013 am Düsseldorfer Flughafen abholt, berichtet ihm, dass es in Syrien nicht so schlimm sei, wie im Fernsehen behauptet werde. Der Freund rät ihm, sich das mal in Ruhe anzuschauen. Wenn ihm das nicht gefalle, könne er ja zurückkehren. "Das war der Moment, in dem ich zu mir sagte: Ja, das mache ich", so Nils D. in der Verhandlung. Er wird mehr als ein Jahr in Syrien bleiben. Dafür drohen ihm nun bis zu zehn Jahre Gefängnis. Heute geht der Prozess weiter.

(csh)
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