Berlin Union kratzt an der absoluten Mehrheit

Berlin · Während bei der FDP niedergeschlagene Stimmung herrschte, überwog bei den Grünen die Sorge vor einer Dominanz der CDU/CSU.

Spannender als der "Tatort", dafür zunächst mit offenem Ende — so gestaltete sich der Wahltag in der Hauptstadt.

15.05 Uhr Bundeskanzleramt. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sitzt mit wenigen Vertrauten, darunter Regierungssprecher Steffen Seibert und Kanzleramtschef Ronald Pofalla, in ihrem Büro im siebten Stock des Kanzleramts und wartet. Als die ersten Prognosen der Forschungsinstitute auf den Handys der Anwesenden einlaufen, ahnt Merkel: Es werden anstrengende Verhandlungswochen. Klare Mehrheiten sind nicht in Sicht.

16 Uhr Im Adenauer-Haus kennen offenbar einige Parteileute erfreuliche Prognosen. Die Stimmung ist gelöst. Es wird Pils und Kölsch gereicht, der Weißwein kommt von der Südlichen Weinstraße. Knapp 2500 Parteifreunde, Journalisten und Gäste werden zur Wahlparty erwartet. 1000 Journalisten sind akkreditiert, auch Kamerateams aus Korea, Kanada und Griechenland sind dabei.

16.30 Uhr Im Kongresszentrum am Alexanderplatz versammeln sich die Mitglieder des FDP-Präsidiums. Fröhliche Gesichter sind nicht zu sehen. Auf dem Parkplatz zwischen den Regierungslimousinen stecken Außenminister Guido Westerwelle und FDP-Vize Christian Lindner die Köpfe zusammen. Die Zeit für Konspiratives scheint gekommen zu sein. Wer die vertraulichen Prognosen kennt, senkt Daumen und Mundwinkel.

17.42 Uhr Die von den Amerikanern gebaute Columbiahalle in Berlin füllt sich. Viele junge Leute tragen grüne T-Shirts und halten Sonnenblumen. Die Stimmung ist noch gelöst. Doch die Besucher wissen auch: Weniger als zehn Prozent für die Grünen hätte sich die Partei vor allem selbst zuzuschreiben. "Die Grünen haben ihre ökologischen Kernthemen vernachlässigt", sagt Partygast Birte Rohles.

17.47 Uhr Merkel hat sich mit den wichtigsten Parteifreunden zurückgezogen, um die Sprachregelung für die Interviews nach der Prognose abzustimmen. Mit dabei: CDU-Vize Ursula von der Leyen, Finanzminister Wolfgang Schäuble, CDU-Vize Armin Laschet, Kanzleramtschef Ronald Pofalla. Die Prognosen sehen die Union weit vorne.

17.48 Uhr Der große Saal im Kongresszentrum am Alexanderplatz ist noch sehr leer, kaum FDP-Anhänger verspüren Neigung, ihre Gefühle vor den TV-Kameras auszudrücken. Die meisten stärken sich noch eine Etage tiefer — mit Mini-Berlinern und Mini-Tartelettes. Wie viel "Mini" steht noch bevor?

18.01 Uhr Bei der FDP gibt es nur ein Raunen als Reaktion. "Wir zittern weiter", sagen Jungliberale, die sich demonstrativ untergehakt haben. Ob es die Briefwähler noch reißen und die Partei doch noch über die Fünf-Prozent-Hürde bringen? Gleichwohl: So schlecht waren die Prognosen für die Liberalen noch nie.

18.01 Uhr Jubel im Adenauer-Haus. Mit 42 Prozent wird der Union ein überraschend starkes Ergebnis prognostiziert. Genauer: das beste seit 1994. "Oh, wie ist das schön", singen die Parteianhänger. Und: "Angie, Angie."

18.01 Uhr Die Grünen jubeln zu früh: Als für die Union das Ergebnis der letzten Bundestagswahl von 2009 mit 33 Prozent auftaucht, jubeln sie spontan — um dann enttäuscht zu schweigen, als die aktuellen 42 Prozent für die Union auftauchen. Großer Jubel dann aber, als für die FDP die Zahl 4,7 in der ARD erscheint. Die acht Prozent der Grünen werden gedämpft kommentiert, der eine oder andere stöhnt auf. Die 4,9 Prozent für die AfD werden mit Rufen "Nazis raus, Nazis raus!" begleitet.

18.01 Uhr Im Willy-Brandt-Haus herrscht gedämpfte Stimmung. Jubel brandet auf, als klar wird, dass die FDP den Sprung ins Parlament nicht geschafft hat.

18.12 Uhr FDP-Vize Lindner tritt als Erster vor die Kameras, spricht von der "bittersten Stunde seit Jahrzehnten". Ab morgen müsse die Partei neu gedacht werden. Und das heißt wohl im Augenblick: ohne Philipp Rösler. Ihn könnte vorübergehend nur retten, wenn die FDP doch noch in den Bundestag einzöge. Ein Liberaler sucht nach einem Schnaps, weil er das Gefühl von "sicher über fünf Prozent" haben will.

18.18 Uhr AfD-Parteichef Bernd Lucke wird frenetisch gefeiert: "Wir haben die anderen Parteien das Fürchten gelehrt." Lange setzen die Euro-Gegner noch auf einen Einzug in den Bundestag. Jedenfalls wüssten die anderen Parteien jetzt, dass sie Widerstand bekommen, wenn sie meint, nach Gutdünken handeln zu können.

18.36 Uhr Nach den ersten Hochrechnungen lässt die FDP alle Hoffnung fahren: "Das packen wir nicht mehr." Sarkastisch kommentiert einer die S-Bahn-Störung am Alexanderplatz: "Da haben sich die ersten Liberalen aufs Gleis gestürzt."

18.38 Uhr NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft kommt zum Interview ins Atrium des Willy-Brandt-Hauses. Ein Ordner will ihr Bändchen sehen, das ihr Zutritt gewährt. "Ich bin die stellvertretende Parteivorsitzende", sagt sie genervt.

18.42 Uhr Am Alexanderplatz kommen die geschlagenen Spitzenliberalen auf die Bühne. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist sichtlich den Tränen nahe, neben ihr Spitzenkandidat Rainer Brüderle, blass und angegriffen, daneben ein eingeschüchterter Philipp Rösler, auch seine Frau Wiebke hat mit den Tränen zu kämpfen. Dirk Niebel bietet dem hinzukommenden NRW-Chef Christian Lindner seinen Platz an, doch der winkt ab.

18.44 Uhr Merkel ist da. Sie betritt allein die Bühne im Foyer der Parteizentrale. "Angie, Angie"-Rufe. Die Agenda der Kanzlerin für die nächsten Stunden: "Es ist zu früh, genau zu sagen, wie wir vorgehen. Aber feiern dürfen wir heute schon." Bemerkenswert: Sie weist auf Joachim Sauer, der in einer Ecke im Foyer steht, und sagt: "Und ich danke auch meinem Mann. Der muss auch manches ertragen."

18.45 Uhr Es klingt wie ein unausgesprochener Doppelrücktritt bei der FDP: Rainer Brüderle spricht vom "schlechtesten Ergebnis" und will die Verantwortung übernehmen". Und wenige Sekunden später bestätigt auch Parteichef Rösler, dass er angesichts dieser "bittersten und traurigsten Stunde in der Geschichte der FDP" natürlich die persönlich-politische Verantwortung übernehmen werde.

19 Uhr Die Spitzenkandidaten Katrin Göring-Eckardt und Jürgen Trittin treten bei den Grünen auf die Bühne. "Man kann auch mal ein Spiel verlieren, aber dann steht man auf, und dann kämpft man weiter", sagt Trittin. Er verspricht eine "ehrliche Analyse", wie es zu dieser Niederlage der Grünen gekommen ist.

19.11 Uhr SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück gibt die Losung aus: keine Spekulationen über Regierungsbildung heute Abend. "Der Ball liegt im Feld von Angela Merkel." Ansonsten Nabelschau bei der SPD. Viel gegenseitiges Lob. Parteichef Gabriel nennt Steinbrück einen "Pfundskerl". Warmer Applaus. Steinbrück fügt etwas später hinzu, er werde in Zukunft immer "für diese SPD" arbeiten. Da bleibt viel Interpretationsspielraum.

19.20 Uhr Die Grünen empfangen ihre Parteichefs Cem Özdemir und Claudia Roth mit genauso viel Applaus wie zuvor die beiden Spitzenkandidaten. "Ich hoffe, dass uns die Alleinregierung der Union erspart bleibt. Das ist nie gut für ein Land", sagt Özdemir. "Ich bin bitter enttäuscht über eine heftige Niederlage", sagt Roth. Merkel habe ein "Mordsergebnis" erzielt, sagt Roth anerkennend. Die FDP habe die Quittung bekommen für einen "reinen Klientelwahlkampf".

21.26 Uhr Spekulationen über eine absolute Mehrheit der Union sind durch eine neue Hochrechnung gedämpft: Nun gibt es ein Stimmenpatt zwischen Union und Rot-Rot-Grün. Im Adenauer-Haus setzt man jedoch noch auf zusätzlichen Schub aus Briefwahlauszählungen.

(brö, mar, may-, qua)
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