Lesung mit Musik in der Xantener Kirche Von der Chance, überleben zu können
Xanten · Die junge syrische Schriftstellerin Nahed Al Essa las in der Evangelischen Kirche Xanten aus ihrem Buch „Über die Schulter blicken“. Monika Seiler aus Xanten spielte Flöte dazu.
Es ist diese feine, besondere Art zu erzählen, die einen andächtig zuhören lässt. Und auch wenn Nahed Al Essa das, was sie zu sagen hat, in eine poetische Sprache kleidet, spürt man doch schnell die Wehmut in jedem einzelnen Satz. Die Sehnsucht nach Syrien, dem kriegsgezeichneten Land, das einmal ihre Heimat war. Das Heimweh nach Damaskus, der Stadt, in der kaum noch ein Stein auf dem anderen liegt. 2015 verließ die heute 34-jährige alleinerziehende Mutter zweier Kinder Damaskus, die Stadt, die so schön nach Jasmin duftet und in der sie 25 Jahre verbrachte. „Der Duft des Jasmin ist überdeckt vom Geruch des Pulvers der Patronen, der Angst, vom Gestank nach Tod. Jetzt stirbt jede Minute eine Hoffnung“, liest die zierliche Frau mit den großen braunen Augen. Sie sitzt auf einem Stuhl in der evangelischen Kirche, vor sich auf einem Tisch weiße, dicht beschriebene Blätter. Texte, die sie unter die Überschrift „Über die Schulter blicken“ gestellt hat.
„Der 24. August 2015 teilte mein Leben auf – in ein Vorher und ein Nachher“, sagt sie mit leiser Stimme in einer Sprache, die ihr bis dahin völlig fremd war. Genau wie das Land, in dem sie heute lebt. Nahed Al Essa liest von diesen letzten Momenten in Damaskus, der letzten Geburtstagsparty. „Ich wusste, dass es für mich der letzte happy birthday in Syrien sein würde“. Sie habe von jedem Viertel der großen Stadt Abschied nehmen wollen, sagt sie und erzählt von den Freunden, den Nachbarn, die ein Fest für sie gegeben haben. Von dem Bruder, der ein Lied für sie geschrieben hat. „Meine Schwester, bleib hier“. Von der letzten Nacht mit ihren Kindern in ihrem Haus. Vom nächsten Morgen. „Der letzte Blick auf die Haustür. Ich erlaubte mir nicht, nach hinten zu schauen, nur nach vorne. Dorthin, wo der Frieden auf uns wartet“.
Behutsam legt Nahed Al Essa das Blatt mit dem Text beiseite, den sie gerade vorgelesen hat. Monika Seiler greift zur Flöte und lässt die junge Syrerin und ihre Zuhörer ein wenig durchatmen. 20 Frauen und Männer fanden den Weg in die Evangelische Kirche. Der Ausschuss für Kunst, Kultur und Kirche hatte Nahed Al Essa nach Xanten geholt, die die ersten Jahre in Deutschland in Bochum lebte. „Vor zwei Jahren haben wir angefangen, diese Lesung zu organisieren, zwei Mal mussten wir sie wegen der Pandemie verschieben. Jetzt hat es endlich geklappt“, freute sich Brigitte Messerschmidt.
Aufmerksam lauschte auch sie den poetischen Erzählungen von Nahed Al Essa. „Als ich im Schlauchboot saß, hielt jeder die Hand eines anderen. Mein Herz war allein. Als die Piraten kamen, mitten auf dem Meer, begann das Boot zu schaukeln. Als es anfing zu sinken, hielt ich meinen Rucksack fest. Und dann hörte ich die Stimme einer Mutter, spürte die Wärme ihrer Hand. Ich schloss meine Augen, nahm mich in die Arme. Da wusste ich, dass ich allein bin“. Sie ist nicht ertrunken, hat es irgendwie ans Ufer geschafft. Als der Himmel ihr Dach, der Sand ihr Bett, ihre Lippen von der Kälte hellblau waren, habe ihr ein Fremder seinen Mantel gegeben mit den Worten: „Wir, die Männer, können Kälte besser ertragen“. Acht Boote seien gestartet, nur sieben kamen an. Sie hofft, dass der Fremde überlebt hat, trug seinen Mantel, bis sie ein Kind traf, das fror. Sie schenkte ihm den Mantel mit den Worten, „wir können die Kälte ertragen“. Wer seid ihr, habe das Kind gefragt. „Wir sind die, die nicht ertrunken sind“. Im September 2015 erreichte Nahed Al Essa die ungarische Grenze.
Sie habe in Syrien einen Beruf gehabt, Familie, Freunde, ein Zuhause. Das neue Leben in Deutschland habe sie erfahren „wie eine eisig kalte Dusche. Langsam wird das Wasser wärmer“. Mehr als 4000 Kilometer trennen Nahed Al Essa von ihrem alten Leben, „4222 Kilometer liegen zwischen mir und der Person, die ich in Damaskus war“. Einer Stadt, in der auch abends Leben war. Ihre Gedanken gehen zurück an einen Tag im März 2010. „Ich stehe an meinem Fenster, es ist 21 Uhr. Ich sehe den Jungen, der gegenüber seine Schulaufgaben macht. Den Mann, der eine Wasserpfeife raucht, einen anderen, der Musik hört.“ Acht Jahre später steht Nahed Al Essa um 21 Uhr in Bochum an ihrem Fenster. „Die Straßen sind leer“.
Heute lebt sie mit ihren beiden Kindern in der Nähe von Hamburg, wartet darauf, dass ihre Ausbildung zur Physiotherapeutin anerkannt wird. 2017 wurde im Libanon ihr erster Roman veröffentlicht. „Ein verpasster Anruf“, so der Titel dieses poetischen Werkes, in dem eine Mutter im Mittelpunkt steht, die ihren 33-jährigen Sohn sucht. Die Geschichte spielt zwischen 2013 und 2015 in Damaskus, Istanbul und Frankfurt. Sie liest ein kurzes Kapitel aus diesem Buch vor, in arabischer Sprache. Dann hält sie inne, schaut mit klarem Blick in die Gesichter der Menschen, die ihr zuhören, und sagt, warum sie aus dem durch einen inzwischen zehn Jahre andauernden Krieg geflüchtet und hierhin gekommen ist. „Deutschland bedeutet für mich die Chance zum Überleben“.