Jürgen Bartsch "Die Grünen sind keine Verhinderer"

Xanten · Den Rheinberger Ortsverband gibt es seit 35 Jahren. Jürgen Bartsch, dienstältestes Ratsmitglied, ist seit 34 Jahren Fraktionssprecher. Im großen RP-Interview verrät der 65-Jährige, was ihn antreibt, weiterhin Kommunalpolitik zu machen.

 Grünen-Fraktionssprecher Jürgen Bartsch.

Grünen-Fraktionssprecher Jürgen Bartsch.

Foto: Ostermann

RHEINBERG Der Rheinberger Grünen-Ortsverband wurde 1983 gegründet. Jürgen Bartsch ist von Beginn an dabei und ist bis heute in Rheinberg und im Kreis politisch aktiv. Er ist seit 1984 Fraktionssprecher der Grünen im Rat und gehört seit 2004 dem Kreistag an.

Herr Bartsch, Sie sind 1952 geboren, werden in diesem Sommer 66 Jahre alt. Würden Sie sich als 68er bezeichnen?

Jürgen Bartsch Nein, ich bezeichne mich als 67er. Der Aufbruch in den 60er Jahren, die Studentenbewegung, die Proteste gegen den Vietnamkrieg - das alles habe ich als Jugendlicher zwar wahrgenommen, und es hat mich auch interessiert. Aber stärker haben mich die kulturellen Veränderungen der Zeit begeistert. Dass damals etwas kulturell Neues gewagt wurde, dass es einen Gegenentwurf etwa zur Musik der Nachkriegszeit gab - das hat mich nicht mehr losgelassen. Das Swinging London, die Carnaby Street, alles das.

Die Musik spielte da eine große Rolle, die Beatles und die Rolling Stones. Sie sind ein großer Musik-Fan. Als Hörer und auch als aktiver Musiker, oder?

Bartsch Bei uns zu Hause wurde Klavier gespielt, ich habe dann auch darauf herumgeklimpert. Später habe ich mir selbst Gitarrespielen beigebracht. Richtig mit Unterricht an der Musikschule gelernt habe ich allerdings Cello. Das lag daran, dass in unserem Schulorchester ein Cellist fehlte und der Leiter zu meinen Eltern gesagt hat: Der Junge ist musikalisch, lassen Sie ihn doch Cello lernen. Weil das Cello aber ein Orchesterinstrument ist, habe ich nach der Schule damit aufgehört.

Haben Sie auch mal in einer Band gespielt?

Bartsch. Ja, in meiner Bielefelder Studentenzeit. Allerdings nicht lange. Wir nannten uns "Gruppe 74", haben im Umland ein paar Auftritte bei Schützenfesten oder Partys gespielt. Ich habe damals schon durchgesetzt, dass wir einen Song von "King Crimson" spielen, eine meiner Lieblingsbands. Ich habe auch Yes und Pink Floyd gehört, viel Progrock, später dann Jazz und noch später Klassik. Inzwischen habe ich auch Klavierunterricht. Mein absoluter Favorit ist Wolfgang Amadeus Mozart. Großartig. Ich höre ganz unterschiedliche Musik, da bin ich sehr offen.

Wo und wie sind Sie aufgewachsen?

Bartsch In Moers-Schwafheim, sehr wohlbehütet. Als ich Kind war, haben wir mit vier Generationen unter einem Dach gelebt. Wir hatten einen riesigen Garten, mein Großvater hatte Tiere, mein Bruder und ich waren viel in der Natur, das war wunderbar. Meine Urgroßmutter, meine Großeltern und mein Vater sind dann in kurzen Abständen verstorben, so dass nur noch meine Mutter, die Kindergartenleiterin war, mein Bruder und ich übrig blieben.

Und die Schule?

Bartsch Ich habe am Adolfinum in Moers Abitur gemacht und bin dann zum Studieren nach Bielefeld gegangen, an die noch junge Reform-uni. Ich habe Soziologie und später zusätzlich Geschichte und Pädagogik studiert. Den Abschluss habe ich als Diplom-Soziologe, meine Abschlussarbeit habe ich über das Thema "Kindergarten oder Vorklasse" geschrieben.

Und beruflich?

Bartsch Ich bin gleich nach meinem Studium Fachberater für die Fernuni Hagen geworden und habe parallel in Wesel und Goch gearbeitet. Im Februar dieses Jahres bin ich in den Ruhestand gegangen.

Seit 1982 leben Sie mit Ihrer Frau Dagmar Krause-Bartsch, die auch bei den Grünen aktiv ist und bis vor kurzem Lehrerin am Amplonius-Gymnasium war, in Rheinberg. Anfangs noch in Budberg, nun schon seit vielen Jahren in der Stadtmitte. Sind Sie erst in Rheinberg mit Politik in Berührung gekommen?

Bartsch Nein. Ich bin beeinflusst durch die Frankfurter Schule, Habermas, Adorno, durch Bücher wie "Die Grenzen des Wachstums". In Unikreisen war es damals üblich, viel über Politik zu theoretisieren. Zur Zeit des Misstrauensvotums gegen Willy Brandt war ich mal ganz kurz Mitglied der SPD, doch das hat mir nicht gefallen. Aber das Bedürfnis, irgendwo politisch anzudocken, habe ich da schon verspürt.

Wie kamen Sie dann zu den Grünen?

Bartsch Ich bin ja in einer Zeit sehr großer Zukunftseuphorie aufgewachsen. Dazu gehörte anfangs auch der Glaube an die Atomkraft. Als es dann um Gorleben und die Frage der Endlagerung ging, war für mich klar: Das ist keine Energieform für die Zukunft.

Damals bildeten sich viele Bürgerinitiativen und Protestbewegungen, von denen viele später in die grüne Partei mündeten.

Bartsch Ja. Als wir dann später in Budberg wohnten, lernte ich Jupp Vogel kennen, der leider früh verstorben ist. Auf seine Initiative hin wurde 1983 der Rheinberger Ortsverband gegründet.

Bereits ein Jahr später schafften Sie den Sprung in den Rat.

Bartsch Zusammen mit Hermann Weiskopf, der leider auch nicht mehr lebt, habe ich die Grünen im Rat vertreten.

Die Grünen standen damals für einen neuen Politikstil. Im Bundestag wurde plötzlich gestrickt, es standen Sonnenblumen im Plenarsaal. Wie war das in Rheinberg?

Bartsch Wir wurden ins kalte Wasser geschubst. Wir glaubten, Ahnung von Politik zu haben. Wir hatten allerdings überhaupt keine Ahnung von den kommunalen Vorgängen, von der Zusammenarbeit mit der Verwaltung. Ich erinnere mich noch gut, dass mir damals ein Beigeordneter gesagt hat: Was wollen die Grünen eigentlich im Rat? In Rheinberg läuft doch alles rund. Ich war etwas konsterniert und habe nur geantwortet: Man kann die Dinge immer noch ein bisschen besser machen, als sie sind.

Wie war das Verhältnis zu den anderen Fraktionen?

Bartsch Wir mussten sehr schnell lernen, die ersten Schritte zu machen. Damals gab es neben den etablierten Parteien auch FBI und UFG im Rat. 1984 schmiedeten SPD, FBI, UFG und wir ein Bündnis, das dazu führte, dass Klaus Bechstein von der SPD Bürgermeister wurde. Das war im konservativen, CDU-geprägten Rheinberg schon eine große Zäsur.

Heute sind die Grünen in Rheinberg erfolgreicher denn je. Sie sind mit acht Mandaten im Rat vertreten.

Bartsch Unser Anspruch ist über die Jahre allerdings immer der gleiche geblieben. Das Ziel lautet nach wie vor, vor Ort konkrete Politik zu machen. Und kritisch zu sein. Und wir haben immer gesagt: Wir wollen auch dokumentieren, was wir politisch getan haben, und es den Bürgern zeigen. Deshalb bringen wir bereits seit November 1984 Info-Blätter heraus, unsere "Statt-Nachrichten".

Den Grünen wird, auch in Rheinberg, mitunter vorgeworfen, Verhinderer zu sein. Es geht oft um gefällte Bäume, um Tempo 30, um Umwelt- und Klimaschutz. Sind die Grünen eine Partei, die oft gegen und selten für etwas ist?

Bartsch Anfangs ging es oft um Bedrohliches: Atomkraft oder Nachrüstung. Nein, wir sind nicht gegen alles und jeden. Es geht uns eher um ein "Ermöglichen von". Es gibt Themen, die sind Dauerbrenner seit Jahrzehnten. Das Thema Verkehr etwa zieht sich durch. Das Problem ist: Die Siedlungsgebiete wachsen, neue Unternehmen kommen hinzu, das Verkehrsaufkommen wird größer. Und dann kommen Anträge aus der Bürgerschaft. Die Verwaltung berücksichtigt zwar den fließenden Verkehr, nicht aber die Menschen, die daran wohnen. Und das kann auf Dauer nicht gut gehen.

Ein anderes Beispiel?

Bartsch Nehmen Sie die Bebauungspläne. Da sind wir oftmals konservativer als die CDU, die das für sich reklamiert. Bei allen Bebauungsplanverfahren haben wir immer betont: Es sollen nicht um jeden Preis neue Siedlungsgebiete ausgewiesen werden. Der dörfliche Charakter darf nicht zerstört werden. Wir sind nicht grundsätzlich gegen Bebauungspläne. Den B-Plan Nr. 50 an der Moerser Straße etwa haben wir mitgetragen. Aber wir waren gegen den B-Plan Nr. 12 in Budberg. Denn dort ist eine der letzten typisch niederrheinisch modellierten Landschaften zerstört worden.

Sie gehören dem Rat seit 34 Jahren an. Was ist Ihre Haupterkenntnis aus dieser Zeit?

Bartsch Dass manche Dinge sehr, sehr lange dauern. Und dass man in der Politik einen langen Atem braucht. Ich verspüre keine Ernüchterung, sondern sehe Niederlagen als Herausforderung. Politik ist die hohe Kunst, Kompromisse einzugehen. Bürgerinitiativen, denen die Grünen ja traditionell nahestehen, haben ein klares Ziel und eine klare Forderung. In der Politik läuft das anders. Das muss man austarieren. Und das ist schwierig.

Wie äußert sich diese Nähe zu den Bürgerinitiativen?

Bartsch Gute Beispiele dafür sind die Initiativen, die vor ein paar Jahren gegen den Bau eines Ersatzbrennstoffheizkraftwerks bei Solvay gekämpft haben. Das haben wir politisch aufgegriffen, das Projekt ist nie realisiert worden. Oder die Initiative gegen den Lärm der Niag-Bahnlinie in Vierbaum und Orsoy. Auch dort haben wir uns politisch stark gemacht, und es ist zu einer guten Lösung gekommen. In den 80er Jahren hat uns die Sondermüll-Entsorgung in Niederwallach lange beschäftigt. 1985 hat Greenpeace dort eine spektakuläre Aktion durchgeführt. Und dann haben wir ja auch die Initiative gegen den Bau der Müllverbrennungsanlage Asdonkshof unterstützt. Das war auch ein großes Thema.

Sie sind nicht nur das dienstälteste Rheinberger Ratsmitglied, sondern sind auch seit 34 Jahren ununterbrochen Fraktionssprecher. Das klingt sehr rekordverdächtig. Wissen Sie, ob es jemanden gibt, der ein solches Amt länger bekleidet als Sie?

Bartsch Das weiß ich nicht, darauf kommt es mir aber auch nicht an. Wichtig ist mir, dass wir als Grüne in Rheinberg gut aufgestellt sind. Wir haben eine Truppe, die von einem tollen Spirit beseelt ist. Schön wäre natürlich, wenn wir noch mehr Nachwuchs hätten.

Wie lange werden Sie noch aktiv Politik machen?

Bartsch So lange das innere Feuer für politische Themen noch brennt. Ich kann Ihnen versichern: Es brennt noch. Es gibt viel zu tun. Der soziale Wohnungsbau in Rheinberg etwa beschäftigt uns. Auch die Frage der Integration von Flüchtlingen. Da haben wir etliche Mitglieder in der Fraktion, die da seit langem sehr engagiert sind. Bei den Grünen gelten nach wie vor vier Grundsätze: Unsere Politik soll ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei ausgerichtet sein. Daran orientieren wir uns in Rheinberg.

UWE PLIEN FÜHRTE DAS INTERVIEW

(RP)
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