Wülfrath Wenn die Heimat in einen Koffer passt
Wülfrath · Als Dorothea Walda (82) am 22. Juli 1946 im schlesischen Kanth in den Zug stieg, schien die Heimat für immer verloren zu sein.
Noch drei Tage. Noch zwei Tage. Noch einen Tag. Als Dorothea Walda schließlich am 22. Juli 1946 in den Zug stieg, war die Heimat verloren. Zuvor hatte die damals 14-Jährige die Tage bis zur Abreise gezählt. Was von ihrem Leben übrig blieb, hatte die Familie in Koffern verstaut. "Es waren nur 30 Kilo erlaubt", erinnert sich Dorothea Walda.
Wenn sie heute über ihre Heimat im schlesischen Kanth spricht, sind es vor allem diese letzten Tage, die sich in die Erinnerung eingebrannt haben. Lange hatte die Familie zuvor gehofft, vielleicht doch bleiben zu können. Immer wieder waren die Eltern mit ihren drei Kindern an die Grenze zu Tschechien geflohen und wieder zurückgekehrt.
Wie viele Deutsche sind noch da? Können wir den Lebensmittelhandel wieder aufbauen? Gibt es vielleicht doch noch irgendeinen Weg zurück nach Hause? "Wir haben lange geglaubt, dass wir zurückkommen ", erinnert sich Dorothea Walda. Als schließlich klar war, dass die Heimat verloren ist, brach eine Kinderseele innerlich in Stücke. "Ich habe auf dem Weg zum Bahnhof unser Haus mit den Händen gestreichelt", erzählt die Wülfratherin von der letzten Berührung des Zuhauses.
Die Eltern waren es, die zum Vorwärtsgehen mahnten. Nicht zurückschauen, nach vorne blicken: Mit diesen Worten ließen sich die "Vertriebenen" durch die Straßen zum Bahnhof treiben. Als sich der "Elendstransport" schließlich in Bewegung setzte, sollte der Blick aus den schmalen Zugfenstern für Jahrzehnte der letzte auf die Heimatstadt Kanth gewesen sein.
Dass jede Erinnerung unendlich schmerzhaft werden würde, war vermutlich schon damals klar. In den Koffern war alles verpackt, was ein Leben in der neuen Heimat leichter machen sollte. "Mein Vater hatte den letzten Kontoauszug des Geschäfts in der Mütze und den Schmuck in das Koffergestell eingenäht", erzählt Dorothea Walda. Vielleicht konnte ein Neuanfang so besser gelingen? Womöglich helfen die wenigen "Reichtümer", um fern der Heimat nochmals neu anzufangen?
Es sind Fragen voller Unsicherheit und Angst, die nicht nur die Familie von Dorothea Walda damals umtrieben. Und es wurden andere Fragen, als die Waggons nach tagelanger Odyssee schließlich in Wuppertal haltmachten. "Wo sind wir hier? Wie geht es weiter? Wo kommen wir hin? Man mag nur erahnen, welches Trauma die Seelen der Vertriebenen für lange Zeit nicht mehr loslassen würde.
Nach einer Woche im "Varresbecker Bunker" war zumindest für Familie Walda klar: Die neue Heimat wird Wülfrath sein. Dort legten in der Stadthalle alle erschöpft den Kopf zum Schlafen auf den Rucksack. So ging es ein ganzes Jahr lang weiter, jede Nacht. Anfangs auf dem Fußboden, später auf Strohsäcken. "Wir hatten ständig Hunger" erinnert sich Dorothea Walda an die erste, schwere Zeit. Mehr als 300 Tage und Nächte später zog die Familie schließlich in ein Zimmer im Hotel Bovensiepen. Auch dort waren damals Flüchtlinge untergebracht. Dass man ein weiteres Jahr zu fünft in einem Zimmer lebte, schien schon beinahe Luxus zu sein.
Später ging's dann nach Düssel und irgendwann weiter in die Wülfrather Innenstadt, wo Dorothea Walda immer noch wohnt. Geht es heute - beinahe 70 Jahre später - um Heimatgefühle, so weiß sie: "Ich bin hier zuhause, aber Kanth ist meine Heimat."
Mehr als vierzig Mal ist sie seither dort gewesen. In ein paar Wochen wird sie zum vermutlich letzten Mal in die Heimat reisen. "Ich fahre immer selbst mit dem Auto und die Reise wird mir zu beschwerlich", gesteht sie. Vergessen wird sie ihre Wurzeln dennoch nie. "Das ist ein Gefühl, als würde eine Mutter ihr Kind verlieren", versucht sie die Gefühle von damals zu beschreiben. Und was bleibt zurück von einem seelisch Trauma, dass nur schwerlich in Worte zu fassen ist? "Man kann leichter loslassen", glaubt Dorothea Walda. Womöglich ist es aber auch das Festhalten und Verwurzeln, was nicht mehr so leicht gelingt.
Für Familie Walda hat jedenfalls in der neuen Heimat ein neues Leben begonnen. Sogar der Lebensmittelhandel des Vaters florierte irgendwann wieder - mit neuem Standort in Wülfrath.
Dorothea Walda selbst blickt auf eine lange und erfolgreiche Schauspielerkarriere zurück und weiß dennoch: "Manche Menschen sind an der Erfahrung von Flucht und Vertreibung seelisch zerbrochen." Viele fühlten sich von der schlimmen Erinnerung so verfolgt, dass sie nie wieder den Weg in die alte Heimat gewagt haben.